Log #240 – Eremit von Monox

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Ich befand mich in einer neuen Lebenssituation und blickte zurück.


Der glühende Feuerball des Zentralsterns stand hoch am Himmel. Eine drückende Hitze lastete auf dem Planeten. Nur die über meinem Kopf aufgespannten roten Tücher boten ein wenig Schatten. Schlaff hingen sie zwischen den Rohren, die als Tragegestell provisorisch installiert wurden. Nicht ein einziger Windhauch ging.

Nachdenklich stand ich an der Brüstung auf dem Dach des Gemeinschaftshauses und schaute hinaus in die Einöde. Rotbrauner Sand und kahle weiße Bäume prägten die Landschaft. Als ich mich mit dem Ellbogen auf die Brüstung stützte, bröckelte poröser Beton und rieselte zu Boden. Meine Gedanken wanderten in die Vergangenheit wie der zurückfließende Sand einer Sanduhr.

Zwei Jahre waren vergangen, seit ich geschnappt und unter fadenscheinigen Anschuldigungen in das Hochsicherheitsgefängnis Klescher auf dem Mond Aberdeen gesperrt wurde. Ohne Aussicht, jemals wieder herauszukommen. Hurston Dynamics wollte mich für immer verschwinden lassen, ohne sich einen Mord anhängen zu lassen. Der tägliche Kampf ums Überleben in den Höhlen von Klescher war erbarmungslos und nur mit Glück schaffte ich es, durch einen mörderischen Tunnel an die Oberfläche zu gelangen. Doch die Freude über meinen Ausbruch währte nur kurz. Hurston Security schnappte mich und setzte mich zum Sterben in der Wüste des Mondes Daymar aus.

Allerdings hatten sie nicht berücksichtigt, dass ich ein Sohn der Wüste war. Ich schaffte es, mich zu einer Schutzunterkunft durchzuschlagen. Es war der Beginn eines Neuanfangs. In den Augen von Hurston Dynamics war ich tot, ich konnte wieder frei leben ohne Angst zu haben, von den Schergen Hurstons gejagt zu werden. Schließlich rettete mich Brubacker, der mit seiner Crew in der von Anvil geliehenen Carrack unterwegs war. 

Ich löste mich von der Brüstung, griff hinter mich auf den Tisch und nahm einen kräftigen Schluck Wasser aus einem Tonkrug. Erfrischend floss das kühle Getränk meine Kehle hinab. Kopfschüttelnd dachte ich an die Zeit auf der Carrack.

Die Crew, das war ein streitsüchtiger Haufen gewesen. Besonders der vermeintliche Hausmeister Aruhso hatte es faustdick hinter den Ohren. Gemeinsam hatten wir einige verrückte Abenteuer erlebt, folgten den Spuren eines vermeintlichen hadesianischen Artefakts, bis sich herausstellte, dass wir verarscht worden waren. Erst dachten wir, wir seien einer Reality Show zum Opfer gefallen, doch dann stellte sich heraus, Aruhso hatte alles eingefädelt. Am Ende erpresste er Brubacker und wollte irgendwelche Sachen von ihm haben. 

Ein kräftiger Windstoß fegte über das Dach. Die roten Tücher flatterten und das Gestänge knarzte. Mit geschlossenen Augen ließ ich den warmen Wind, der mit Sandkörnern durchsetzt war, über mein Gesicht streichen. Es fühlte sich gut an, den Atem der Wüste zu spüren. 

Der Sand erinnerte mich daran, wie ich anfing, in der Wüste des Mondes Daymar Schrott zu sammeln und zu verwerten. Es war der Beginn meines Lebens als Plünderer. Ich sammelte und verwertete, was andere zurückließen. Dabei stieß ich auf Hinweise, dass meine White Rabbit nicht zerstört war. Fortan folgte ich ohne Unterlass den Spuren zu meiner verloren geglaubten Mercury Star Runner. Schließlich fand ich sie in Lorville. Mit Hilfe von Brubacker und Husky konnte ich sie zurück klauen.

Und dann erschien völlig überraschend eine Nachricht von X, dem Unbekannten aus Orison, auf dem Bildschirm meiner White Rabbit. Er oder sie lud mich zu einem Programm namens ‘Neuanfang’ ein, mit dem Crusader Industries Menschen half, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Und plötzlich führte ich ein Doppelleben. Auf der einen Seite war ich ein rechtschaffener Kurier für Crusader Industries. Auf der anderen Seite versuchte ich, mich in die Datenbank von Hurston Dynamics zu hacken, um die letzten Einträge über mein früheres Leben zu löschen. Und selbst die Arbeit für Crusader Industries hatte zwei Seiten. Eine offizielle und eine inoffizielle. Ich arbeitete für eine Spezialabteilung, die inoffizielle Aufträge ausführte, mit denen Crusader Industries nicht in Verbindung gebracht werden durfte. Ich bekam Einblicke in eine verdeckte Welt, in der selbst Teile der Megakonzerne sich für das Gute und für die Menschen einsetzten. 

Aber es gab auch die anderen, die Schattenzirkel, die nach Macht und Zerstörung strebten. Sie holten mich wieder ein, in Form des Projektes ENOS. Kjeld Stormanson und Thane McMarshall hatten mich gebeten, ihnen bei der Suche und Entschlüsselung einer Black Data zu helfen. Sie vermuteten darin entscheidende Hinweise zur Aufklärung des ENOS-Skandals. Die Aktion führte mich tief in den Kaninchenbau von Macht, Politik, Misstrauen und Verschwörung. Am Ende konnten wir zwar den Drahtzieher in Stanton zur Strecke bringen, aber ENOS lebte im Pyro-System weiter.

Ein rasselndes Geräusch riss mich aus meinen Erinnerungen und weckte meine Aufmerksamkeit. Ich ging ein paar Schritte auf einen Ventilator zu, der an ein rostiges Rohr geschweißt war. Ein Schlag mit der flachen Hand gegen das Gehäuse beendete das Klappern. Mein Blick wanderte über das flache Dach des Gemeinschaftshauses. Der Baustil und die Konstruktion ähnelten sehr den verfallenen Siedlungen des Stanton-Systems, die einst von den ersten Siedlern in Stanton errichtet worden waren. Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen und legte meine Füße auf einige Getreidesäcke.

Wenn Alaska das sehen würde, was würde er wohl sagen? Mit Hilfe des Wissenschaftlers hatte ich den Skandal um die ersten Siedler aufgeklärt. Wir hatten die starke Vermutung gehabt, dass die ersten Siedler von Stanton aus dem Pyro-System gekommen waren. Die Ähnlichkeit der Gebäude bestärkte diese Vermutung.

Dann musste ich an Maria denken, die mit ihrer Gruppe als Flüchtlinge aus Pyro gekommen war und sich an einem zurückgezogenen Ort in Stanton niedergelassen hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich die Geheimnisse von Maria gelüftet hatte. Es war Maria gewesen, die mir ein anderes Leben gezeigt hatte, ein Leben in Frieden, ein Leben im Hier und Jetzt. Und dank ihr hatte ich zu meinen Wurzeln zurückgefunden.

Und jetzt lebte ich selbst zurückgezogen in der Wüste auf dem Planeten Monox im Pyro-System. 

Nach dem Angriff der Slicers im Stanton-System hatte ich Hilfslieferungen für die Citizens for Prosperity zum Pyro Gateway gebracht. Dort lernte ich Gerald kennen. Gerald gehörte zur Ortsgruppe der Rust Society auf Monox. Ich folgte seinen Erzählungen und seiner Einladung nach Pyro. Als ich mein Kommen ankündigte, bat Gerald mich, eine Lieferung der Citizens for Prosperity zur Raumstation Patch City im Pyro-System zu bringen. Von dort wollte er einen sicheren Transport für mich nach Monox organisieren. 

Es war das erste mal, dass ich auf einer Raumstation im Pyro-System war. Es war eine alte, total verfallene Station des Bergbau-Unternehmens Pyrotechnic Amalgamated. Die Rough & Ready Gang hatte die Station übernommen und bot Tankstellen Dienste an. Sie boten zwar Schutz für die Besucher, aber in die Instandhaltung der Station schienen sie nicht zu investieren. Alles war vermüllt, heruntergekommen und provisorisch am Laufen gehalten. An den Essensständen gab es gegrillte Ratten, irgendwelche Maden in Soße und Wasser, dem ich nicht so ganz über den Weg traute. Grim Hex war im Vergleich ein Wellness Center. 

Nachdem ich Gerald in Sunset Mesa besucht hatte, kehrte ich nach Stanton zurück. Aber ich fand das bunte, schrille Leben in Stanton abstoßend. Ich sehnte mich nach dem einfachen Leben in Pyro. Nach nur einem Tag in Stanton war ich wieder im Pyro-System. Nachdem ich alle Planeten des Pyro-Systems besucht hatte, zog ich mich in die Wüste auf Monox zurück. 

Ich genoss es, allein zu sein, im Sand zu sitzen, dem Flüstern der Wüste zu lauschen und in einem meditativen Zustand die Wüste zu spüren. Es war ein Segen, von all dem Chaos und der Dysfunktionalität wegzukommen. Die Welt war in Lager zerbrochen. Ich hatte den Eindruck, es gäbe nur noch die Frage: Wir oder die, drinnen oder draußen, links oder rechts, oben oder unten. Die Menschen lebten in den Extremen, sie positionierten sich nur noch an den Polen. Was war aus der Mitte geworden? Was war aus den vielen Grautönen geworden? Das Leben bestand nicht nur aus Schwarz und Weiß. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass selbst die Frage nach Richtig und Falsch eine Frage der Perspektive war.  Es war leicht, sich auf einen Pol zurückzuziehen. Aber die Grautöne zu erkennen und in der Mitte zu gehen, das war anstrengend. Man brauchte Geduld und Ruhe. Die Mitte war kein geometrischer Punkt, den man berechnen konnte. Sie war individuell, sie musste aktiv gesucht, gefunden und immer wieder ausbalanciert werden.

Durch das zurückgezogene Leben in der Wüste hatte ich meine Mitte und damit meinen Frieden gefunden. Dieses Leben hatte mich verändert, nicht nur äußerlich. Die Leute hier sprachen schon von dem komischen Kauz, der allein in der Wüste lebt. 

Ich musste lachen. Vielleicht war ich ein bisschen komisch geworden. Aber die Menschen, die hier lebten, schienen mich zu schätzen, und ich mochte sie. Ab und zu kam ich in ihre Siedlung, half bei Reparaturen, füllte meine Vorräte auf und kehrte dann wieder in die Einsamkeit der Wüste zurück. 

Die Schatten auf dem Dach wurden länger. Pyros Stern senkte sich Richtung Horizont. Es war Zeit aufzubrechen und mich zurückzuziehen in die Einsamkeit. Langsam ging ich die abgerundeten staubigen Treppen hinunter. Im Gemeinschaftsraum wurde gerade das Abendessen zubereitet. Ein süß-saurer Geruch lag in der Luft. Das Klappern von Geschirr und das Knistern des Kaminfeuers strahlten eine wohlige Gemütlichkeit aus. Die Siedler wollten mich noch dazu bewegen, zum Essen zu bleiben. Doch ich lehnte ab. Sie packten mir etwas in eine Tonschale, ich bedankte mich herzlich und ging hinaus. 

Die Luft war schon deutlich kühler geworden, aber es hatte immer noch über 30 Grad Celsius. Ich setzte die Brille auf, zog die Kapuze über den Kopf und stieg auf mein Hoverbike. Dann rauschte der Sand unter mir und die kargen Bäume seitlich an mir vorbei. Nachdem ich über einen Hügel gefahren war, war das Gemeinschaftshaus außer Sicht. Die Einsamkeit der Wüste hatte mich wieder, ich war wieder in meinem Element.