Ich wollte meinen Job als Kurier bei Crusader Industries kündigen. Doch dann erfuhr ich etwas überraschendes.
Ich war zurück in Orison. Zurück von einer weiteren Schicht als Spezial-Kurier im Dienste von Crusader Industries. Die Anstellung bei Crusader Industries war ein geregeltes Leben. Und genau das war mein Problem. Feste Strukturen, Dienstpläne und vorgegebene Termine passten nicht zu meiner Vorstellung eines freien und selbstbestimmten Lebens. Ja, ich hatte freie Tage, sogar Sonderurlaub, in dem ich mich um ENOS und andere Angelegenheiten kümmern konnte. Trotzdem musste ich raus aus diesem Korsett und rein in das Sternenmeer, durch das ich mich treiben lassen konnte. Die Zeit war reif. Meine Akten in der Datenbank von Hurston Dynamics hatte ich gelöscht und durch die Arbeit für Crusader Industries hatte ich mir einen guten Ruf aufgebaut. Ich konnte mich wieder unbeschwert und frei im Stanton System bewegen. Nichts hielt mich mehr hier. Im Gegenteil. Mir ging die Siedlung in den Moreland Hills und ihre in Freiheit lebenden Bewohner nicht aus dem Kopf. Wie ein Magnet zog sie mich an.
Seit mehreren Minute stand ich vor der Tür mit der Aufschrift “Head of Forschung, Entwicklung und Logistik”. Aus unerklärlichen Gründen zögerte ich. Schließlich gab ich mir einen Ruck. Mein Klopfen an der Tür hallte dumpf durch den Gang.
“Kommen Sie herein.”
Der Manager saß wie üblich in seinem zerknitterten blauen Hemd und der locker sitzenden Krawatte hinter seinem Schreibtisch. Wie stolze Trophäen hingen die gerahmten Bilder der Schiffe von Crusader Industries hinter ihm. Mein Blick blieb an dem Bild hängen, auf dem ein Graffiti zu sehen war. Jetzt fiel mir wieder ein, wo ich dieses Graffiti schon mal gesehen hatte. Es war die gleiche stilisierte Krähe, die auch in Cousin’s Crows auf der Providence Plattform an der Wand prangerte.
“Zero, willkommen. Was kann ich für Sie tun?”
Ich druckste etwas herum.
“Also ich. Also ich meine. Was ich sagen will…..”
“Es ist Zeit für Sie aufzubrechen. Wieder raus zu gehen in die freie Wildnis.”
“Äh ja. Woher wissen Sie das?”
“X hatte damit gerechnet. Wir waren überrascht, dass Sie es so lange bei uns ausgehalten haben.”
Verdutzt schaute ich den Manager an. X hatte mich nach Orison eingeladen, um am Programm Neuanfang teilzunehmen. Trotzdem war ich überrascht, dass der Manager X erwähnte.
“Sie kennen X?”
“Nicht persönlich. X hat das Programm Neuanfang ins Leben gerufen. Er bringt immer wieder Menschen ins Programm. Und Menschen mit besonderen Talenten und Einstellungen kommen dann zu mir in die Forschung, Entwicklung und Logistik. Es ist kein Zufall, dass Sie in so kurzer Zeit vom Müllsammler zum Spezial-Kurier aufgestiegen sind.”
Meine Gedanken kreisten so schnell, dass ein Rauschen in meinen Ohren tobte. Ich wusste nicht, wie ich das alles einordnen sollte. Mein Gesichtsausdruck musste die vielen Fragezeichen in meinem Kopf widerspiegeln.
“Lassen Sie mich das erklären. Wie Sie auf den Informationstafeln in Orison bestimmt schon gelesen haben, hat August Dunlow, der Gründer von Crusader Industries, das Unternehmen nach dem Grundsatz aufgebaut, dass ein Unternehmen dann wirklich floriert, wenn es der Gesellschaft etwas zurückgibt. Ihm war das Wohlergehen der Menschen wichtig.”
Ja das hatte ich gelesen und mich gewundert. Wie konnte es ein Anti-Messer Aktivist schaffen, ein florierendes Unternehmen aufzubauen? Und wie passte seine soziale Einstellung zum Gebaren der Megakonzerne?
“Sie denken jetzt bestimmt, dass das nur leere Worte sind. Tatsächlich leben wir den Geist von Dunlow weiter. Leider können wir nicht ganz offen tun, was wir tun wollen und auch tatsächlich tun. Es könnte unsere wirtschaftlich-politische Position, das Machtgefüge zwischen den vier Mega-Konzernen und die Stabilität im Stanton-System gefährden. Daher agieren wir mehr im Verborgenen. Genauso wie die Schattenzirkel in Stanton. Die dunklen Mächte, die mehr als fragwürdige Ziele und Vorgehensweisen haben. Zu diesen wollen wir, ganz im Sinne von Dunlow, einen Gegenpol bilden. Nicht ganz offiziell, aber mit Nachdruck . X ist eine Schlüsselfigur dabei.”
Das Rauschen in meinen Ohren wurde immer lauter. Ungläubig starrte ich ihn an.
“Und Sie wollen mir jetzt sagen, dass Crusader Industries der weiße Ritter ist?”
“Wir sind nicht alleine. Es gibt mehr Kräfte im Stanton System, die sich dem Guten widmen, als sie glauben. Sogar bei Hurston Dynamics.”
Meine Augen verengten sich zu einem Schlitz. Kritisch schaute ich ihn an.
“Ich weiß, dass Sie schlechte Erfahrungen mit Hurston Dynamics gemacht haben. Aber sogar in der Hurston Familie gab und gibt es Personen, die sich für eine gute Sache einsetzen. Wenn Sie mal wieder in Lorville sind, schauen Sie sich im Krankenhaus ‘Maria Pure of Heart’ die Statue an. Das ist Maria Hurston. Sie hatte sich für das Wohlergehen der Arbeiter eingesetzt. Nach ihr wurde das Krankenhaus benannt. Und es gibt immer noch einflussreiche Personen, die diese Arbeit im Verborgenen fortsetzen. Mit ihnen arbeiten wir zusammen. Ich schicke Ihnen ein Dossier über die Hintergründe des Krankenhauses. Dann können Sie sich ein eigenes Bild machen.”
Diese Flut an neuen Informationen überforderte mich fast. Es rüttelte an den Grundfesten meiner Erfahrungen im Stanton System. Überwältigt ließ ich mich auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch fallen.
“OK, ihr habt also so eine Art geheimen Club der Wohltäter. Und was hat das mit mir zu tun?”
“Sehen Sie, die Abteilung Forschung und Entwicklung hat den Vorteil, mit dem Argument der Wahrung von Betriebsgeheimnissen Dinge im Verborgenen zu machen. Und dadurch, dass wir auch Logistik in unserer Einheit haben, können wir Lieferungen durchführen, die unter das Betriebsgeheimnis fallen. So können wir Menschen helfen, die Hilfe benötigen, ohne dass wir offiziell etwas damit zu tun haben und angreifbar sind. Selbst Menschen außerhalb vom Stanton System. Allerdings hat das Grenzen. Wir können unsere Arbeit nicht ohne die Unterstützung von unabhängigen Personen machen. Personen, die offenkundig eine eigene Agenda verfolgen, aber im Geheimen mit uns zusammenarbeiten.”
Vor dem Fenster flog eine der gigantischen Container Bargen vorbei. Beim Anblick machte es plötzlich Klick in meinem Kopf. Der illegale Erz-Export aus Stanton lief damals über Crusader. In einer Raffinerie wurde mir ein Kontakt in Orison genannt. Ich dachte immer, es waren die Aktivisten, die das organisierten. Konnte es sein, dass die Aktivisten heimlich von Crusader Industries unterstützt wurden oder gar für diesen Gute-Sache-Club arbeiteten?
“Und jetzt braucht ihr jemanden wie mich, der die Drecksarbeit für Euch macht.”
“Ich würde es nicht als Drecksarbeit bezeichnen. Aber ja. Wir brauchen talentierte und von der guten Sache überzeugte Menschen wie Sie. X hat sie in das Programm und in meine Abteilung geholt, um ihnen eine offizielle Crusader Industries Vita zu geben und sie dann in unsere Sache einzubinden. Offiziell sind sie ab sofort für Sonderaufgaben abgestellt. Keine Sorge, Sie sind nicht mehr im Schichtdienst und können ihr eigenes Ding machen. Die Anstellung bei Crusader Industries ist nur Fassade. Um den Anschein zu wahren, haben Sie weiterhin ein Appartement in Orison und bekommen auch hin und wieder einen offiziellen Auftrag von uns. Die wirklich hilfreichen Aufträge bekommen Sie inoffiziell. Sie werden also so eine Art Doppelleben führen.”
Ich grinste leise in mich hinein. Wenn der Manager wüsste, dass ich bereits ein Doppelleben führte. Das für Crusader Industries und mein eigenes als Hacker, Ermittler, Schmuggler und was weiß ich was sonst noch. Aber vielleicht wusste er das auch. Egal, dann führte ich halt ein dreifaches Leben. Zumindest solange es nicht zu meinem Nachteil war. Im Moment sah ich nur Vorteile. Ich konnte mein eigenes Ding machen, den unterdrückten Menschen und freien Völkern helfen und hatte einen sicheren Rückzugsort in Orison.
*
Abends saß ich in meinem Appartement und las mir das Dossier über Maria Hurston durch. Ich war fasziniert, dass es innerhalb der Hurston Familie Auseinandersetzungen gab. Auf der anderen Seite irgendwie auch nicht überraschend bei solch machtgierigen Konzernen. Aber noch viel faszinierender war der Mut und der Einsatz von Maria.
Dem Dossier war noch etwas angehängt. Ein offener Brief von Anden Arden, dem CEO von Drake Interplanetary.
Er wollte die Marke Drake wieder mit den hart arbeitenden Leuten verbinden, die das Imperium wirklich am Laufen hielten. Er ging sogar so weit, dass er an Treffen mit Aktionären und anderen CEOs nicht mehr teilnahm. Dem UEE gegenüber zeigte er sich kritisch und attestierte ihm Selbstüberschätzung und Selbstgefälligkeit. Die Politiker würden den Leuten, die sie repräsentierten, nicht zuhören. Er würde das mit seiner Marke Drake anders machen. Das hörte sich fast an wie eine Kampfansage. Fast nach einem zweiten August Dunlow. Meinte er das ernst, oder wollte er nur ein besseres Image für Drake?
Wie auch immer. Im Moment interessierte es mich nicht. Es war Zeit für meinen Aufbruch in die Sterne, in mein selbstbestimmtes Leben. Für eine Weile stand ich an der Tür und schaute in mein Appartement. Durch das Fenster war der gebündelte weiße Strahl des Scheinwerfers bei der Wal-Statue zu sehen, der sich langsam durch die Nacht bewegte. Das Licht im Appartement dimmte herunter, bis nur noch die Ambientebeleuchtung ein indirektes Licht abgab. Es war Zeit, die Sterne warteten. Mit einem leisen Seufzer drehte ich mich um und ging.