Es ergab sich die Gelegenheit für eine irrsinnige Flucht aus Klescher.
Das Hochsicherheitsgefängnis Klescher war die Hölle. Ich konnte mir keinen schlimmeren Ort im Verse vorstellen. Als mir bei meiner Erkundungstour in den Minen der Sauerstoff ausgegangen war, hatte mich eine Gruppe von Häftlingen gerettet. So nannten sie es jedenfalls. Zuerst stabilisierten sie meine Sauerstoffversorgung mit einem Oxypen, dann nahmen sie mich in die Mangel. Fußtritte, Faustschläge, das ganze Programm. Nur weil ich sie für die sogenannte Rettung nicht bezahlen konnte. Nachdem sie mir alles abgenommen hatten, was ich bei mir trug, ließen sie mich mit einer Warnung gehen. Sie würden wiederkommen und dann wollten sie Merits sehen. Da war es wieder, mein Grundproblem. Ich hatte kein Miningtool um mit Bergbau Merits zu verdienen und ich hatte keine Merits um mir ein Miningtool zu kaufen.
Wochenlang versuchte ich irgendwie durchzukommen. Es war kaum möglich. Ich musste raus aus dieser Hölle. Dringend. Mein Leben hing davon ab. Und dann passierte es. Erneut empfing ich eine Nachricht von Ruto, mit einem Jobangebot. Jemand hatte in seinem Auftrag versucht, einen Datenchip aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Doch die Mission scheiterte. Die arme Sau lag mit dem Chip irgendwo in einem Fluchttunnel. Ruto wollte, dass ich den Chip berge und zu ihm nach Grim Hex bringe. Er hatte alles für die Flucht vorbereitet. Das war die Gelegenheit, hier rauszukommen.
Es war soweit, der Tag der Freiheit war gekommen. Und ich stand zweifelnd vor dem riesigen Ventilator, der in die Felswand eingelassen war. Die Rotorblätter waren größer als ich. Wie eine gigantische Kreissäge drehten sie sich, bereit alles zu zerfleischen, was ihnen zu nahe kam. Vorsichtig tippte ich eine Ziffernfolge auf das Zahlenpad. Ich konnte nur hoffen, dass Ruto’s Plan und der Code funktionierten. Erst spürte ich, wie der Luftstrom schwächer wurde. Dann war deutlich zu erkennen, wie sich die Rotorblätter immer langsamer drehten, bis sie schließlich stillstanden.
Der Weg in die Freiheit war offen. Nur wie lange würde der Ventilator stillstehen? Der Motor konnte jederzeit wieder starten. Wenn ich dann im Bereich der Rotorblätter war… Daran wollte ich gar nicht denken. Mit einem mulmigen Gefühl schob ich erst einen Fuß durch den Ventilator. Dann folgten mein Oberkörper und der zweite Fuß. Erleichtert atmete ich einmal tief ein und wieder aus. Geschafft, es konnte weitergehen. Langsam tastete ich mich durch den Lüftungskanal, als ich hinter mir das Wup Wup der immer schneller werdenden Rotorblätter hörte. Es gab kein Zurück mehr.
Nach einigen Metern erreichte ich einen kreisrunden, senkrechten Lüftungsschacht von fast 10 Metern Durchmesser. Über die gesamte Breite des Schachtes erstreckten sich bedrohlich rotierende Ventilatoren. Einer wenige Meter unter mir, der andere 20 oder 30 Meter über mir. Ruto hatte nichts von weiteren Ventilatoren gesagt. Ich sah kein Nummernpad, um sie abzustellen. Kein Weg an den Ventilatoren vorbei. Kein Ausweg. Ich saß in der Falle.

Und jetzt? Frustriert setzte ich mich auf den Boden und ließ den Wind der großen Ventilatoren an mir vorbei streichen. Irgendwann fiel mir auf der anderen Seite des Lüftungsschachts ein Loch in der Wand auf. Ein schmaler Metallsteg führte am Rand des Schachtes auf die andere Seite. Vor dem Loch wuchs eine Pflanze mit blauen Blättern. Dann erinnerte ich mich daran, was sich die Gefangenen erzählten: “Wenn Du Sehnsucht nach der Freiheit hast, folge der blauen Blume.”
Das musste der Weg nach draußen sein. Vorsichtig ging ich über den Metallsteg und kroch in das Loch. Es führte mich direkt in eine Höhle. Es war dunkel und eng. Der schmale Gang war bedrückender als die Minen in Klescher. An manchen Stellen kam ich nur kriechend voran. Langsam folgte ich dem Schein meiner Helmlampe. Irgendwann erreichte ich eine Stelle mit mehreren Abzweigungen. Eine blaue Blume war nirgends zu sehen. Auf gut Glück nahm ich den erstbesten Weg.
Immer wieder gab es Abzweigungen. Orientierungslos irrte ich umher, bis ich schließlich eine glatte Felswand erreichte. Darauf war ein Gesicht geritzt. Ein Kreis, zweimal ein X für die Augen und ein Mund, der die Zunge rausstreckte. Es sah fast so aus, als wollte mich das Gesicht verhöhnen. Warum hatte das jemand gemalt? Einige Meter weiter bekam ich die Antwort. Vor mir stand eine blaue Blume und ein blaues Licht. Die Stelle kam mir mehr als bekannt vor. Ich war im Kreis gelaufen und stand wieder ganz am Anfang. Meine Hoffnung auf Freiheit wurde von der Sorge, keinen Ausgang zu finden, verdrängt.

Noch zweimal kam ich an der Stelle vorbei. Es war zum verzweifeln. Doch dann entdeckte ich in einer Nische eine blaue Blume an der Decke. Nachdem ich eine Felswand erklommen hatte, wurde die Höhle breiter und höher. Neue Hoffnung keimte in mir auf. Nach einer Weile erreichte ich einen Durchgang und stand auf einem Felsvorsprung. Vor mir lag eine gigantische Höhle. Es ging so tief nach unten, dass ich den Boden nicht sehen konnte. Die Felswände strebten steil nach oben und verloren sich in der Unendlichkeit eines schwachen Lichtes, das ganz oben schimmerte. Zwischen den Felswänden waren Metallkonstruktionen, die wie zerstörte Brücken an einen nicht mehr existenten Weg erinnerten. Ich schaute hinauf in die schwindelerregende Höhe. Dort oben lag mein Ziel.
Erst fasziniert, dann mit schwindender Zuversicht, stand ich auf dem Felsvorsprung. Wie sollte es nur weitergehen? Vor mir lag der tiefe Abgrund. Auf der anderen Seite war weit entfernt in der Dunkelheit ein weiterer Felsvorsprung. Es war zu weit zum Springen. Ohne Hoffnung starrte ich in die Dunkelheit, als ich mich daran erinnerte, dass der Mond Aberdeen eine geringe Schwerkraft hatte. War die Distanz doch zu schaffen? Mit allem Mut, den ich aufbringen konnte, nahm ich Anlauf, rannte auf die Kante zu und sprang.

Unsicher flog ich mit rudernden Armen durch die Luft und landete auf der anderen Seite direkt auf der Felskante. Mein Fuß rutschte ab und baumelte über dem Abgrund. Das Poltern herabstürzender Steine war zu hören. Mit rasendem Herz fand ich gerade noch Halt an einer Wurzel. Wenn ich gewusst hätte, dass dies erst der Anfang war, hätte ich wahrscheinlich den Mut verloren.
Der Weg nach oben war geprägt von waghalsigen Sprüngen. Immer wieder musste ich Distanzen überspringen, von denen ich nicht geglaubt hätte, dass sie zu schaffen waren. Es war Irrsinn, aber alternativlos. Ich musste raus aus Klescher, egal wie. Irgendwann stellte ich das Denken ein und handelte nur noch nach Instinkt. Der tief verwurzelte Trieb zu überleben, übernahm die Kontrolle über mein Handeln.
Auf halber Strecke nach oben fand ich einen anderen Häftling. Er lag auf einer Plattform vor einer versperrten Tür. Auf dem Metallboden hatte er das Wort “Hilfe” eingeritzt. Doch für ihn kam jede Hilfe zu spät, er war tot. In seinem Rucksack befand sich der Datenchip. Dieser Chip war meine Fahrkarte in die Freiheit. Doch zuerst musste ich es nach oben schaffen.

Nach einigen weiteren irrsinnigen Sprüngen erreichte ich die höchste Stelle. Ich stand auf den Resten einer eingestürzten Brücke und blickte in die Tiefe. Auf der anderen Seite des Abgrunds befand sich ein halb verfallener Lüftungsschacht. Eine kreisrunde Röhre, die sich in den Fels bohrte. Verbogene Metallstreben und Platten ragten wie zerfetzte Überreste der einstigen Brücke heraus. Es war ein weiter Sprung auf die andere Seite. Viel Platz zum Anlauf nehmen hatte ich nicht. Mit aller Kraft spurtete ich drei Schritte und drückte mich ab.
Das Kreischen von aneinander reibendem Stahl hallte durch die Höhle, als ich landete. Für einige Sekunden wagte ich nicht, mich zu bewegen. Nichts passierte, die Konstruktion hielt. Erleichtert ging ich tiefer in den Lüftungsschacht.
Kurz darauf erreichte ich einen perfekt ausgebauten Service-Tunnel. Ein durch Geländer gesicherter Metallsteg führte mittig durch die runde Tunnelröhre. Vorfreude ergriff mich. Der Ausgang konnte nicht mehr weit sein. Schneller und schneller rannte ich durch den Tunnel, bis ich plötzlich vor einer Wand stand.

Nachdem ich durch eine schmale Öffnung auf die andere Seite der Wand geklettert war, befand ich mich in einem gigantischen Lüftungsschacht. Er führte von der Oberfläche bis tief in den Mond. Über mir funkelten die Sterne. Sie schienen zum Greifen nahe. Ich war im Freien und aufgeregt wie ein kleines Kind, das vor seinem Geschenk saß und darauf wartete, es auspacken zu dürfen. Doch noch war ich nicht auf der Mondoberfläche. Eine rostige Treppe führte nach oben. Voller Ungeduld rannte ich los und nahm mehrere Stufen auf einmal. Wie aus dem Nichts tat sich ein Loch in den Stufen vor mir auf. Ein Schlund, der mich verschlucken und zurück in die Tiefen des Mondes bringen wollte.
Gerade noch rechtzeitig konnte ich stoppen und mich am Geländer festhalten. Mehrere Treppenstufen waren weggebrochen. Halb lachend, halb entsetzt schaute ich in das Loch. So durfte es nicht enden. Nicht so kurz vor dem Ziel. Einige Minuten verharrte ich auf der Treppe und versuchte mich zu beruhigen. “Jetzt bloß keine Fehler machen Zero. Ganz ruhig und überlegt handeln”, sagte ich zu mir selbst.
Und dann war ich endlich oben. Ich stand auf der Mondoberfläche von Aberdeen. Außerhalb der Mauern des Gefängnisses. Es war Nacht. Das menschenleere Gelände der Anlage war gut beleuchtet. 100 Meter entfernt war einer der Container, in dem ein URSA Rover geparkt sein sollte. Ich rannte los.

Nach einem kurzen Sprint stand ich vor dem Codeschloss und gab die Zahlenkombination ein. Die Tür öffnete sich. Die ganze Anspannung fiel von mir ab. Meine Muskeln erschlafften. Ein warmes Glücksgefühl machte sich in meinem Körper breit. Mit einem Lächeln blickte ich auf den Rover. Endlich Freiheit.
Plötzlich spürte ich einen Schlag in den Nacken. Dann wurde es dunkel.