Log #204 – Ein neuer Weg

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Eine Nachricht von einem altbekannten Unbekannten eröffnete mir neue Wege.


Lieber Zero Sense,
ich habe Kenntnis erlangt von Ihrer Situation und möchte Ihnen ein Angebot unterbreiten. Im Green Circle auf Orison ist ein Zimmer für Sie reserviert. Ich würde mich freuen, Sie in der Wolkenstadt begrüßen zu dürfen.
Wertschätzende Grüße
X

Die Nachricht erschien völlig überraschend auf einem Bildschirm an Bord meiner White Rabbit. Zuerst dachte ich, jemand hätte sich in mein Bordsystem gehackt. Vielleicht war es auch so. Und wenn es so war, dann hatte X es gut gemeint. X war immer noch ein Mysterium, ich hatte ihn oder sie noch nie gesehen. X hingegen schien mich gut zu kennen und war mir bisher wohl gesonnen. Also machte ich mich auf den Weg nach Orison, der schwebenden Stadt in den Wolken des Gasriesen Crusader. Was sollte schon schief gehen?

*

Als ich das Zimmer im Green Circle betrat, umhüllte mich ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit. Es war sauber und einladend. Die Einrichtung war eine Harmonie aus gut riechendem Holz und Pflanzen, Rundungen und einem gedämmten Licht. Durch das Fenster waren rosa Bäume und die Statue des Weltraumwals zu sehen – das Wahrzeichen von Crusader.

Ein Seufzer der Zufriedenheit kam tief aus mir heraus. Die Holzpaneele an den Wänden verschluckten das Geräusch. Alles war gedämmt, es gab keine Hektik, keinen Krach, nur Entspannung. 

Auf der Küchenzeile lag ein Umschlag aus rotem Stoff mit einer schwarzen Musterung. Ein sanftes Klick war zu hören, als ich den goldenen Verschluss öffnete. Raschelnd zog ich eine Nachricht aus dem Umschlag.

Lieber Zero Sense,
es freut mich, dass Sie in Orison angekommen sind. Ihre Schwierigkeiten mit Hurston Dynamics sind mir wohlbekannt. In Orison haben wir ein Programm, mit dem wir Menschen helfen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Wir nennen es Neuanfang. 
Es hilft ihnen, neu zu starten, ohne Bürde aus vergangenen Tagen. Die Sicherheitskräfte werden in ihnen eine rechtschaffene Person sehen. 
Was ich nicht entfernen kann, sind Einträge in geheimen Datenbanken von Hurston Dynamics. Jedoch gehe ich davon aus, dass Sie bereits Vorkehrungen getroffen haben, um das selbst in die Hand zu nehmen. Zumindest legen Aufzeichnungen der Sicherheitssysteme in Orison diesen Schluss nahe.
Ich möchte Sie dazu ermutigen, den Neuanfang zu wagen. Auch wenn Ihnen die ersten Schritte unzumutbar vorkommen mögen. Wenn man einen Berg erklimmen will, fängt man ganz unten im Tal an.
Ermutigende Grüße
X

Langsam senkte ich das Blatt mit der Nachricht. Unfokussiert starrte ich aus dem Fenster. X war unheimlich, scheinbar allgegenwärtig. Wer war diese Person? Und woher wusste sie, dass ich die Server von Hurston hacken wollte? Hatten Überwachungskameras aufgezeichnet, wie ich an einem Computer in Orison die Hacker-Software programmierte? Um beim Programmieren besser sehen zu können, hatte ich meinen Helm abgenommen. Das war wohl etwas leichtsinnig gewese

Ich ging um die Küchenzeile herum zum Sofa. Das schwarze Leder knarrte, als ich mich darauf fallen ließ. Der Neuanfang fühlte sich nicht schlecht an. Ich würde mich wieder frei im Stanton-System bewegen können. Nur den Planeten Hurston musste ich dann noch meiden, bis ich meine Einträge in den Datenbanken von Hurston Dynamics gelöscht hatte. Aber was meinte X mit den unzumutbaren ersten Schritten? Ich drehte das Blatt mit der Nachricht. Auf der Rückseite war eine Anschrift auf Orison und eine Uhrzeit. Dort sollte ich mich am nächsten Tag melden.

*

“Schön, dass Sie uns dabei helfen wollen, dass Orison eine lebenswerte Stadt bleibt. Arbeitskleidung wird Ihnen gestellt. Einen Schichtplan sende ich Ihnen auf Ihr Mobiglas.”

Irritiert schaute ich die Facility Managerin an. Ihr blauer Anzug war makellos. Leger, aber doch ein Ausdruck der vornehmen Gesellschaft. Auf der Brust trug sie eine goldene Anstecknadel mit dem Firmenlogo von Crusader Industries. Ein C, das von oben nach unten von einem Schwert gekreuzt wurde.

Ich wollte sie gerade fragen, ob das ihr ernst sei und dass sie den Müll in ihrem feinen Anzug selber wegräumen könne. Doch dann fielen mir die Worte von X ein. 

Auch wenn Ihnen die ersten Schritte unzumutbar vorkommen mögen. Wenn man einen Berg erklimmen will, fängt man ganz unten im Tal an.

Das gehörte wohl zum Programm Neuanfang dazu. Man musste ganz unten anfangen und den Müll der anderen wegräumen. Was für eine Scheiße. Aber gut, Orison war nicht Grim Hex. So viel Müll würde hier schon nicht rum liegen.

*

Wie man sich doch täuschen konnte. Es war unglaublich. OK, nicht so schlimm wie in Grim Hex, aber trotzdem eine Frechheit. Unachtsam warfen die Leute einfach ihren Müll weg. Einfach so auf den Boden geworfen, völlig rücksichtslos. Leere Flaschen, Medpens, Verpackungen. Und ich musste den Kram einsammeln und entsorgen. Während meiner Schicht schlenderte ich über die Plattformen von Orison  und räumte auf, was andere fallen ließen. So viel zur feinen Gesellschaft. Citizens, Bürger des UEE, die obere Klasse. Zum kotzen.

Bei meiner heutigen Schicht hatte ich Dienst auf dem Spaceport. Gemütlich schlenderte ich zu den ASOP Terminals. Lautsprecherdurchsagen hallten durch das Terminal. Geschäftig liefen viele Menschen umher. Meine Bewegungen erschienen dagegen wie in Zeitlupe. Ich hatte alle Zeit der Welt. In meinem blauen Overall und mit der blauen Crusader Mütze kam ich mir schon irgendwie lächerlich vor. “Was soll’s”, dachte ich mir. Wenn es half, mich wieder frei im Stanton System bewegen zu können, sollte es mir recht sein. 

Ich lief gerade bei Whammer’s vorbei, als ich aus den Augenwinkeln etwas sah. Flaschen, lauter leere Flaschen lagen auf dem Boden. Es war eine absolute Frechheit. Die Flaschen lagen direkt vor dem Mülleimer. Fassungslos stand ich da und schaute den Verkäufer hinter dem Tresen an. Der zuckte nur mit den Schultern und drehte sich um. Warum waren die Menschen nicht in der Lage, ihren Müll in den nur einen Meter entfernten Mülleimer zu werfen? Die gehobene Gesellschaft war sich wahrscheinlich zu fein dafür.

Schimpfend bückte ich mich und fing an die Flaschen aufzuheben. Eine nach der anderen landete im Mülleimer. 

“Im Kel-To bekommst Du Pfand für die Flaschen.”

Der Verkäufer von Whammer’s schaute hinter seinem Tresen von oben auf mich herab. Ich warf ihm einen grimmigen Blick zu. Abwehrend hob er seine Hände.

“Ich wollte es nur gesagt haben. Musst Du wissen.”

Dann drehte er sich wieder um und beschäftigte sich mit seinen Burgern. 

*

Am Nachmittag, nach Dienstschluss, saß ich auf einer Bank in der Nähe der Walstatue. So sehr ich mich über die Unachtsamkeit der Menschen ärgerte, so sehr konnte ich mich auf Orison entspannen. Dieser Ort strahlte so viel Ruhe aus. Die sanft fallenden Blätter der Bäume wurden vom Wind in rosa Wolken über die Plattformen geweht. Das Plätschern der Wasserspiele vor der Statue hatte eine meditative Wirkung.

Eigentlich war es gar nicht so schlecht. Es gab ein Spa und einen Fitnessraum. Beides konnte ich kostenlos benutzen. In der Voyager Bar konnte ich bei einem Whiskey Cola am Kamin sitzen und die fantastische Aussicht genießen. Es hätte schlimmer kommen können. Eigentlich war es eine Fügung des Schicksals. Ich konnte Luminalia an einem entspannten Ort genießen und musste nichts dafür bezahlen.


Ich wünsche Euch allen schöne Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr.