Eine neue Spur führte zum Kopf der ENOS Verschwörung. Wir versuchten alles, um ENOS endlich zu beenden.
Wir standen in einer muffigen Kammer, versteckt hinter Containern in der Lagerhalle der Orbitalstation Port Tressler. Kjeld Stormanson und Thane McMarshall erläuterten ihre neuesten Erkenntnisse zu ENOS.
“Wir haben die Datenplakette öffnen können, die wir auf der 600i gefunden hatten. Es ist der letzte, aber entscheidende Hinweis von Ignotus. Aetherius ist der Kopf von MACH. Er ist unter dem bürgerlichen Namen Arthu Esei bekannt und ist der Halbbruder von Ignotus. Aetherius versucht, die innere Struktur von MACH an sich zu reißen und ENOS einzig als Mittel zur ultimativen Dominanz zu nutzen. Er scheint völlig größenwahnsinnig zu sein. Heute haben wir die Chance der Schlange endgültig den Kopf abzuschlagen. Aetherius besitzt einen privaten Bunker auf Microtech. Dort ist sein Imprint gespeichert und wichtige Beweismittel, um die Verschwörung aufzudecken. Zudem wird Aetherius heute auf dem Planeten Crusader dem Tod seiner Mutter gedenken. Dort können wir ihn schnappen. Vorher müssen wir aber seinen Imprint löschen und die Beweise sichern.”
“Wenn der Imprint gelöscht ist und die Daten gesichert sind, können wir Aetherius erpressen, sich zu stellen oder endgültig zu sterben”, ergänzte Thane. “Wir können MACH damit endgültig zerschlagen. Mit dem Fall von Aetherius geht der MACH Zirkel unter und ich kann mit den Beweisen offizielle Ermittlungen gegen alle Verschwörer einleiten, auch gegen die im Microtech Bureau of Organized Crime.”
“Wenn wir es richtig machen, können wir den Typ auch gleich ghosten und das Problem endgültig aus der Welt schaffen”, sagte Hermieoth.
“Das kommt überhaupt nicht in Frage”, platzte es aus Brubacker heraus.
Die beiden fingen an zu streiten, wieder einmal. Über Moral, über Gut und Böse, darüber, ob Richter und Henker ein und dieselbe Person sein dürfen und ob man Unrecht mit Unrecht bekämpfen darf. Ich verstand die Diskussion nicht. Wir hatten hier die Chance, der Macht, die hinter ENOS stand und alle Fäden in der Hand hielt, endlich das Handwerk zu legen. Mit Worten kamen wir nicht weiter, wir mussten handeln. Und zwar jetzt! Schließlich brach meine Ungeduld aus mir heraus.
“Mir wird hier echt zu viel gelabert. Ich will jetzt los, sonst verpassen wir den Typen noch.”
Ohne eine Reaktion abzuwarten, verließ ich das Versteck. Die anderen folgten mir.
Mit einer Freelancer flogen wir zum Bunker auf dem Planeten Microtech. Friedrich Winters begleitete uns als Backup in seiner 600i. Beide Raumschiffe landeten an verschiedenen Stellen, ein Stück entfernt vom Bunker. Friedrich blieb in seinem Schiff, wir anderen machten uns zu Fuß auf den Weg zum Bunker.
Der Schnee knirschte unter meinen Füßen, als ich durch die dunkle Nacht lief. Wir hatten Glück. Microtech verschonte uns vor seinen unbarmherzigen Stürmen und bescherte uns kristallklare Luft. Als wir einen Hügel überquerten, sahen wir die Lichter des Bunkers einige hundert Meter entfernt. Mit der Optik meines Scharfschützengewehrs überprüfte ich, ob Wachen um die Anlage patrouillierten. Es war niemand zu sehen. Der Weg zum Bunker schien frei zu sein, aber wie viele Wachen würden uns im Inneren erwarten? Würden wir wieder ins Verderben rennen, wie beim letzten Versuch ENOS ein Ende zu bereiten? Schmerzliche Erinnerungen an mein damaliges Ableben und der ersten Aktivierung meines Imprints wurden wach. Für eine Weile verharrte ich in einem unguten Gefühl, bis mir auffiel, dass die anderen bereits weit voraus waren und die Bunkeranlage erreicht hatten.
Nachdem ich zur Gruppe aufgeschlossen hatte, fuhren wir mit dem Lastenaufzug nach unten in die Höhle des Löwen. Im Eingangsbereich ging ich hinter einer Brüstung in Deckung und wartete. Sollten die andern erstmal den Weg frei räumen, ich war als Hacker hier, nicht als Kämpfer. Über Funk hörte ich die Anstrengungen, die Wachen auszuschalten.
Ich war gerade dabei, mich hinter meiner Deckung etwas zu entspannen, als ich plötzlich Schritte hörte. Vorsichtig schaute ich um die Ecke und zuckte sofort zurück. Ein Wachmann kam direkt auf mein Versteck zu. Der Rest meiner Gruppe war schon tief im Bunker, ich war auf mich allein gestellt. Mein Herz schlug immer schneller und lauter in meiner Brust. In dem verzweifelten Versuch, unsichtbar zu werden, ging ich tief in die Hocke. Plötzlich stand der Wächter neben mir. Für eine Sekunde schien die Zeit still zu stehen. Dann ging alles ganz schnell. Wie eine Katze schnellte ich nach oben. Mein Gewehrkolben krachte gegen den Helm des Wachmanns. Er packte mich am Hals. In Panik riss ich das Gewehr mit aller Kraft nach oben und traf den Wachmann am Kinn. Bewusstlos brach er zusammen.
Schwer atmend stand ich über dem reglosen Körper und griff nach seiner Waffe. Ich musste zu den anderen, nur in ihrer Nähe war ich sicher. Mit möglichst leisen Schritten ging ich in den verwinkelten Bunker. Schon nach wenigen Metern stolperte ich über zwei bewusstlose Wachmänner. Sie lagen friedlich auf dem Boden. Ich beugte mich über sie, um ihre Waffen zu nehmen. Gerade als ich nach der zweiten Waffe griff, erschreckte mich eine Stimme.
“Was machst Du da?”
Es war Hermieoth.
“Ich nehme die Waffen. Wenn die wieder aufwachen, wäre es besser, wenn sie unbewaffnet sind.”
“Wir haben keine Zeit für sowas. Los! Der Weg zum Computerterminal ist frei. Du bist dran. Beeil Dich.”
Etwas mürrisch ließ ich die Waffen fallen und folgte Hermieoth zum Terminal. Mit dem Passwort, das wir von Ignotus hatten, konnte ich mich ohne Probleme einloggen. Meine Augen weiteten sich, als ich die Daten sah. Vor mir lag der Beweis. Aetherius wollte mit ENOS die ultimative Macht erlangen, er wollte ein neues Imperium erschaffen. Mit ENOS verfügte er über eine universelle Waffe. Es handelte sich um organisch programmierbare Bio-Bots, die mit Testmaterial verschiedener Spezies gefüttert wurden. Vor allem von Menschen und Vanduul. Deshalb brauchten sie Testmaterial der verschiedenen Spezies. Sie wollten ENOS als Allheilmittel verkaufen und in Umlauf bringen, zuerst in Stanton, dann im ganzen UEE. Einigen Gefangenen in Klescher wurden bereits Bio-Bots injiziert. Diese dienten als Schläfer und konnten jederzeit aktiviert und für verschiedene Aufgaben programmiert werden. Mit ENOS waren sie in der Lage, ferngesteuerte Menschen zu schaffen, die sie wie Marionetten lenken konnten.
Ich war fassungslos. Es konnte schmerzhaft sein, zu erfahren, dass man Recht hatte. Wir hatten es schon lange vermutet, aber uns fehlten die Beweise. Nun hatten wir sie in den Händen, inklusive einer Liste aller Drahtzieher. Ich lud die Daten herunter und löschte mit Genugtuung den Imprint von Aetherius. Jetzt hatten wir ihn an den Eiern.
“Alles erledigt. Los raus hier. Schnappen wir uns Aetherius”, rief ich zu den anderen.
Unbehelligt verließen wir den Bunker und flogen zum Gasplaneten Crusader. Wie vermutet, fanden wir Aetherius auf der schwebenden Plattform Prospect Point. Er stand am Rande der Plattform und schaute in die Ferne.
Als wir landeten, machte er keine Anstalten zu fliehen, obwohl sein Raumschiff nur wenige Meter von ihm entfernt stand. Hatte er noch ein Ass im Ärmel? Ich wollte auf Nummer sicher gehen und nahm Aetherius sofort ins Visier meines Scharfschützengewehrs. Die anderen näherten sich ihm von zwei Seiten. Alle seine Fluchtwege waren abgeschnitten. Er konnte nirgendwo hin, dachten wir.
“Ihr kriegt mich nicht. Mein Imprint wird euch jagen”, rief er uns zu und sprang von der Plattform in die Tiefe.
Perplex senkte ich meine Waffe und lief zu der Stelle, an der Aetherius eben noch gestanden hatte. Gemeinsam schauten wir vom Rand der Plattform nach unten. Wir sahen nur rosa Wolken. Unter uns war nichts, außer der Unendlichkeit des Gasplaneten Crusader.
“Ist der gerade wirklich gesprungen?”, fragte ich.
“Ohne Imprint kommt er nicht weit”, betonte Hermieoth.
“Er hat sich selbst gerichtet, ohne es zu wissen”, stellte Brubacker fest.
“Wäre er nicht gesprungen, hätte ich ihn gestoßen”, ergänzte Hermieoth.
Und wieder entbrannte ein Streit über richtig und falsch zwischen Brubacker und Hermieoth. Die anderen stiegen in das Streitgespräch mit ein. Sprachlos schaute ich die Gruppe an. Was war los mit denen? Wir hatten gewonnen, es war aus und vorbei. Wir hatten Aetherius, MACH und damit die ganze ENOS Scheiße unschädlich gemacht. Konnten sie nicht einfach den Sieg genießen? Ich nahm eine Dose Whisky-Cola aus meinem Rucksack, die ich extra für die Siegesfeier mitgenommen hatte. Genüßlich öffnete ich die Dose und nahm einen intensiven Schluck. Der Sieg, er schmeckte gut. Mit einem Lächeln ließ ich die Gruppe am Rand der Plattform stehen und ging zum Raumschiff.
Allerdings waren bei aller Freude tief in mir noch Zweifel. War es wirklich vorbei? Irgendwie war die Sache zu einfach gewesen. Und dann gab es noch Professor Usagi, der im Pyro-System an ENOS forschte. Konnten wir sicher sein, dass seine Forschung zusammen mit MACH unterging?
*
Das Projekt ENOS. Seit drei Jahren hielt es uns auf Trab. Viele Gruppen waren involviert. Organisationen wie TYR, Yellowhand Security, Helldivers oder GBC. Wir alle waren nur Spielbälle und wurden gegeneinander ausgespielt. Wir folgten den Brotkrumen, die Ignotus für uns ausgelegt hatte, sammelten viele Puzzleteile und konnten doch nicht alle zusammensetzen. Immer wieder glaubten wir, den entscheidenden Hinweis gefunden zu haben. Wir folgten den Spuren der Thiago Lobby, der Forgotten15, der Versipellis Sica. Doch es waren alles nur Handlanger von MACH. Dem mächtigen Geheimzirkel aus Vertretern der Megakonzerne Microtech, ArcCorp, Crusader Industries und Hurston Dynamics. Eine Schattengesellschaft, die nicht weniger vor hatte als einen UEE-weiten Putsch. Sie wollten die Galaxie nach ihren eigenen Vorstellungen formen. MACH war mit dem Fall von Aetherius handlungsunfähig geworden. Gegen die Überreste und die verbliebenen Drahtzieher wie den Direktor des Microtech Bureau of Organized Crime (MBOC) Nils Mobi oder den Crusader Security Richter Alexandrji Rusaro ging Thane McMarshall jetzt offiziell vor. Und Brubacker hatte ein Sonderblatt veröffentlicht, in dem er über den Skandal berichtete.
War damit die Wahrheit ans Licht gekommen und ENOS aus der Welt? Oder gab es immer noch Leute, die ENOS für ein Allheilmittel hielten und uns für Verschwörungstheoretiker? Und was war mit Professor Usagis illegaler ENOS-Forschung im Pyro-System und den Versuchspersonen, die er dort gefangen hielt? Wir wussten, dass Professor Usagis Forschung am Geldhahn von MACH hing, dass Unterstützung und Gelder von Stanton nach Pyro flossen. Wir vermuteten, dass mit dem Ende von MACH auch die Unterstützung für Usagi enden würde. Dass es keinen Transfer mehr von Stanton nach Pyro geben würde. Aber ich wollte sicher gehen.
Seit Tagen befand ich mich am Sprungpunkt zum Pyro-System und hörte jede Kommunikation ab. Meine leistungsstarken Bordcomputer analysierten alle Daten, die ich abgefangen hatte. Sie konnten nichts finden, was darauf hindeutete, dass Informationen oder Unterstützung für ENOS ins Pyro-System gesendet wurden. Es schien wirklich vorbei zu sein. Zumindest für uns. Für diejenigen, die nach den Menschen suchten, die ins Pyro-System verschleppt worden waren, war es noch nicht vorbei.
Plötzlich empfing ich ein sehr schwaches und ungewöhnliches Signal. Es hatte seinen Ursprung 640 Kilometer entfernt vom Pyro-Sprungpunkt. Mitten in einem Gebiet, in dem die Gaswolken besonders dicht und dunkel waren. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Meine Neugier war geweckt.
Die Perspektive von Brubacker: https://sternenwanderer.org/jahr-2954#S13