Log #213 – Satellitenübertragung

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Die Spuren von ENOS führten uns an einen Ort, der uns schon einmal zum Verhängnis wurde.


Wir standen hoch oben auf einem schneebedeckten Felsen und blickten über die Eisfläche. Am Ende des zugefrorenen Sees schmiegte sich der New Babbage Spaceport in die verschneite Bergkette. Nur noch wenige Sekunden, dann würde Stantons Stern über den Gipfeln aufsteigen und warmes Licht verbreiten. Alle waren aus dem Häuschen und tranken Bier. Husky hüpfte in Unterhosen durch die Gegend. Mir war überhaupt nicht zum Feiern zumute. Dabei gab es einen guten Grund zum Feiern. Wir hatten die letzte Etappe von ‘Into the Wild’ geschafft. Die Umrundung des Planeten Microtech auf Hoverbikes. 

Aber mich beschäftigten ganz andere Dinge. Außerdem hatte ich nie verstanden, was Brubacker mit dieser Planetenumrundung bezwecken wollte. Wem half das? Machte es das Leben der freien Völker besser? Löste es die Rätsel um ENOS? Wohl kaum. Zudem war ich nur bei wenigen Etappen dabei gewesen. Meine Gedanken kreisten um den Satelliten, den Friedrich Winters und Hermieoth in der Nähe des Pyro-Sprungpunktes gefunden hatten.

In den Logbüchern des Satelliten hatten wir Hinweise darauf gefunden, dass Daten über ENOS darauf gespeichert waren. Die Daten wurden auf eine Drake Herald, ein Raumschiff für den Datentransport, übertragen. Danach versagte die Selbstzerstörung wegen Energiemangels. War das die Pipeline nach Pyro? Wurden so Informationen und Gelder von Stanton nach Pyro transferiert, um dort die illegale Forschung an ENOS zu ermöglichen? Vieles deutete darauf hin. Schließlich wurden die Daten in KH3 auf den Satelliten kopiert. Das war der Bunker, in dem der öffentliche ENOS-Test stattfand. Der Bunker, wo ich mein Leben verlor, wo mein Körper vernichtet wurde. Der Ort, dem ich die erste Aktivierung meines Imprints verdankte. Das traumatische Erlebnis der Regeneration steckte mir noch in den Knochen. Und genau an diesen Ort wollten wir zurückkehren, um den Hinweisen zu folgen. In nur zwei Tagen. Wie konnte man bei diesen Aussichten feiern?

Plötzlich spürte ich Wärme in meinem Gesicht. Stanton blickte über die Gipfel und warf einen orangen Lichtstrahl über die Eisfläche, der mich blendete. Schützend hielt ich mir die Hand vors Gesicht.

*

Der Plan war komplex und berücksichtigte alle Eventualitäten. Hoffentlich. Wir hatten den offiziellen Auftrag, einige Kisten aus dem Bunker KH3 zu holen. Ich hatte keine Ahnung, wie Hermieoth und Friedrich diesen Auftrag organisieren konnten. Trotzdem blieb mehr als ein Risiko. Würden wir trotz des Auftrags problemlos in den Bunker gelangen? Würden uns die Geschütztürme beschießen? Und würde ich mich ungestört in den Hauptcomputer hacken können, ohne Alarm auszulösen? Sicherheitshalber störte Kjeld den Funk rund um den Bunker. Für den Notfall hielt er einige seiner Söldner bereit. Friedrich Winters brachte uns mit seinem Raumschiff in die Nähe des Bunkers. Er, Hermieoth und ich fuhren die letzten Kilometer mit einem Rover. Mit dem Lastenaufzug fuhren wir in die Tiefe.

Plötzlich kam der Aufzug mit einem lauten Quietschen zum Stehen. Unkontrolliert wankte ich hin und her. Meine weichen Knie konnten dem harten Stopp kaum standhalten. Wir hatten die untere Ebene erreicht. Bisher war alles problemlos verlaufen. Hermieoth ging voraus, gefolgt von Friedrich. Ich hielt mich im Hintergrund. Sollten die beiden erfahrenen Kämpfer ruhig die Vorhut bilden. Ich war überrascht, als mir Friedrich erzählte, dass er vor langer Zeit in der UEE Navy gedient hatte. Der Großvater von Husky steckte voller Überraschungen.

“Hallo. Lieferservice. Wir sollen hier was abholen. Wo stehen die Kisten?”

Friedrich klang selbstbewusst und sicher. Etwas, das ich von mir nicht behaupten konnte. Von den Wachen reagierte keiner. Niemand interessierte sich für uns.

“Sieht so aus, als ob wir die Kisten suchen müssen. Na dann mal los.” 

“Wir lassen uns Zeit”, flüsterte Hermieoth mir zu. “Durchsuche Du solange den Computer. Aber beeile Dich. Zu lange will ich mich hier nicht aufhalten.”

Während ich zum Serverraum ging, hörte ich Hermieoth noch laut schimpfen. 

“Mein Gott, habt Ihr hier ein Chaos. Das kann eine Weile dauern, bis wir die Lieferung gefunden haben.”

Vor dem Serverraum befand sich eine Art Werkstatt. Auf einem Tisch lagen Werkzeuge, dazwischen ein kleiner Satellit. Die Solarzellen waren ausgeklappt und die Wartungsklappe für die Datenschnittstelle stand offen. Ich blieb stehen. Es war genau das gleiche Satellitenmodell, das Friedrich und Hermieoth am Pyro-Sprungpunkt gefunden hatten. Wurde gerade eine weitere Datenübertragung vorbereitet? 

Plötzlich hörte ich jemanden hinter mir. Mir blieb die Luft weg. Meine Finger begannen zu kribbeln und meine Knie wurden weich. Panik stieg in mir auf. Ich wusste, dass ich hier nicht sein durfte. Der Lieferdienst hatte hier nichts zu suchen.

“Ich sichere den Durchgang. Konzentriere Du Dich auf den Computer.”

Es war Friedrich. Ein Gefühl der Erleichterung strömte durch meinen Körper. Oh man, etwas weniger Aufregung wäre mir lieber.

Schnell fand ich die Admin-Konsole im Serverraum. “Terminal locked. Insert access card.” stand auf dem Bildschirm. Darauf war ich vorbereitet. Jetzt war ich in meinem Element. Es surrte leise, als mein Hacking Chip geschmeidig in den Kartenleser glitt. Ein Wirrwarr an kryptischen Zeichen flackerte über den Bildschirm. Dann erschien eine Ordnerstruktur.

Als erstes fiel mir eine Personentransport-Bescheinigung vom MBOC auf. Das war das Microtech Bureau of Organized Crime. Die Namen Special Agent Franklin Brittle, Professor Mark Gilbert und Arthur Esei waren als Auftraggeber bzw. verifizierende Personen auf der Bescheinigung. Professor Gilbert arbeitete in Stanton an ENOS, Arthur Esei gehörte zur ENOS Fördergruppe. Transportiert werden sollte Melissa Dusak. Melissa Dusak war eine Wissenschaftlerin, die an ENOS gearbeitet hatte. Sie wollte Brubacker und Hermieoth Informationen zustecken. Allerdings war sie nie am Treffpunkt erschienen. Wohin sie gebracht werden sollte, stand nicht direkt auf dem Auftrag. Es war nur ein kryptischer Status vermerkt: “X.3 SIV . PII”. War PII Pyro 2? Auf Pyro 2 vermuteten wir das ENOS Labor in Pyro. Hatten die Mächte hinter ENOS Melissa geschnappt und nach Pyro gebracht? Genau wie viele andere. Wie Marietta Abendroth und Tjarva Ulfur, die jetzt ENOS Testpersonen in Pyro waren?

“Zero, versteck Dich, da kommt ein Techniker.”

Die Warnung von Friedrich riss mich unsanft aus meinen Gedanken. Blitzschnell ging ich hinter einem Serverschrank in Deckung. Als ich zur Admin-Konsole schaute, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich hatte vergessen, ihn zu sperren. Auf dem Bildschirm war noch die Transportbescheinigung zu sehen. Sollte der Techniker zur Konsole gehen, würde er sofort erkennen, dass sich jemand unbefugt Zugang verschafft hatte.

Schritte näherten sich. Ein leises “Scheiße” brüllte in meinem Kopf. Erneut stieg Panik in mir auf. Meine Gedanken rasten. Was sollte ich tun? Den Techniker ausschalten? Unfähig einen klarer Gedanken zu fassen kauerte ich hinter dem Serverschrank. Dann hörte ich eine Stimme.

“Hallo!”

Es war Friedrich.

“Können Sie mir helfen? Wir suchen die dritte Kiste der Lieferung, die wir abholen sollen. In dem ganzen Chaos können wir sie nicht finden.”

„Ja, ich glaube, ich weiß wo die steht. Ich zeige es ihnen.”

“Danke. Es eilt. Wir müssen so schnell wie möglich aufbrechen.”

Die Schritte entfernten sich und Friedrichs Botschaft war bei mir angekommen. Hastig kopierte ich weitere Daten vom Server, ohne sie mir anzusehen. Dann löschte ich die Aufnahmen der Überwachungskameras. Schließlich trennte ich die Verbindung, sperrte den Bildschirm und nahm meinen Hacking-Chip aus dem Kartenleser. Alles sah aus wie vorher, als wäre nie jemand da gewesen. Wir verließen den Bunker mit drei Kisten. Niemand war verletzt, niemand hatte etwas gemerkt. Es war eine saubere Aktion.

Wenig Später trafen wir uns mit Kjeld und Brubacker auf einer Raumstation, um die Daten auszuwerten. Leider waren die Dokumente ziemlich alt, aber trotzdem interessant.

Wir hatten ein streng geheimes Dokument über vertrauliche Finanztransaktionen gefunden. Zwischen der Universität Eldfjall auf Microtech, dem inzwischen zerstörten Labor von Professor Mobi auf dem Mond Clio, dem Drogenkartell Forgotten15, der Blutroten Front und dem MBOC wurden riesige Summen hin und her transferiert. 

Die Daten aus dem Bunker enthielten auch einen Brief von einem Mitarbeiter des ENOS-Projekts, an die Behörden. Er hieß James Morgul und prangerte die Missachtung ethischer Grundsätze im Projekt an. Er berichtete, dass die Nine-Tails Killergruppe Versipellis Sica Menschen entführt hatte, die jetzt als Testpersonen missbraucht wurden. Das MBOC würde alles vertuschen und Whistleblower wie ihn beseitigen. Zudem sollen die Experimente nach Pyro verlegt werden, um Komplikationen mit der Konzern-Jurisdiktion zu vermeiden. Er hätte Beweise und wolle alles publik machen. Unter dem Brief befand sich eine Anweisung des MBOC, James Morgul und die Beweise zu beseitigen.

Wir fanden auch einen Brief von einem unbekannten Absender an Niels Mobi, den Direktor des MBOC. Der Brief bestätigte, genau wie der Brief von James Morgul, was wir bereits wussten. Die Forschung von Professor Mobi und die Versuche an Menschen. Die Verlagerung der Experimente und der Versuchspersonen nach Pyro. Dass Professor Usagi in Pyro weiterforschen sollte, um eine Waffe zu entwickeln. Die Zusammenarbeit mit dem Drogenkartell Forgotten15 und der radikalen Nine Tails-Gruppe Versipellis Sica. Und es wurde angewiesen, abseits der geheimen Forschung in Pyro, im Stanton-System regulär und unter Einhaltung aller Gesetze und ethischen Grundsätze weiter zu forschen und der Öffentlichkeit Zugang zu gewähren. 

“Die ganzen öffentlichkeitswirksamen ENOS Aktionen in Stanton sind nur ein Deckmantel, um von der illegalen Forschung in Pyro abzulenken,” schimpfte Hermieoth.

“Und das MBOC steckt knietief mit drin. Ich werde Thane McMarshall zur Rede stellen. Als Sicherheitschef von Microtech muss er etwas dagegen tun”, ergänzte Friedrich.

“Wenn wir die Informationen veröffentlichen, glaubt uns eh keiner. Wir müssen die Pipeline und damit die Finanzströme nach Pyro kappen. Damit stören wir die Forschung in Pyro.”

Brubacker war von der Idee nicht begeistert.

“Zero das ist gefährlich. Damit schrecken wir nur die Drahtzieher hinter ENOS auf und gefährden die Testpersonen in Pyro.”

“Wie willst Du denn an die Drahtzieher rankommen? Wenn wir für etwas Unruhe sorgen, werden die vielleicht unvorsichtig und machen Fehler. Ich mach mich auf die Suche nach den Forgotten15. Die kennen die Pipeline. Das ist unsere beste Chance.”