Ein Trip in die Wüste entwickelte sich zu einer anderen Art von Trip.
Nach einem Treffen mit Xine war ich auf dem Rückweg zum Gemeinschaftshaus und dachte über das Gespräch mit Xine nach. Er hatte mir ein P6 Scharfschützengewehr und eine Railgun besorgt. Und natürlich wurde er dabei von Ray Keaton bedroht. Dass der Typ auch immer wieder auftauchen und Ärger machen musste. Xine wollte wissen, ob ich mit der Railgun Ray pulverisieren wollte. Der Gedanke war interessant. Wäre die Railgun dann eine Raygun? Aber nein, ich hatte meine Mitte und meinen Frieden gefunden und keinen Bedarf, mich mit Ray zu beschäftigen. Und dank Unterhändler wie Xine auch keine Notwendigkeit bei dubiosen Aufträgen in Erscheinung zu treten.
Pyros Stern war gerade über den Horizont geklettert, als ich das Gemeinschaftshaus erreichte. Sanft setzte ich meine geliehene Drake Cutter hinter dem Haus auf. Mit einem tiefen Atemzug sog ich die morgendliche Wüstenluft ein. Es war die letzte Frische, bevor Pyro seine ganze Kraft zeigte. Ich wollte mit meinen Vorbereitungen fertig sein, bevor die steigende Hitze jede Bewegung in ein Schweißbad ausarten ließ.
Nachdem ich eine Kiste mit Getränken in die Cutter geladen hatte, überprüfte ich das Hoverbike. In dem Augenblick kam Brubacker aus dem Gemeinschaftshaus.

“Hey”, grüßte Brubacker verschlafen.
“Morgen, ausgepennt?”
“Yo, was machst Du?”
“Bereite unseren Trip in die Wüste vor. Ich zeig Dir, wo man seine Balance findet. Wo ist Husky?”
“Der ist mit dem Bike unterwegs.”
“Bestimmt hat er nicht genug Wasser dabei. Einsteigen, Bru. Wir suchen ihn.”
Während wir mit der Cutter über den roten Wüstensand glitten, fragte ich Brubacker.
“Sag mal, der Datenstick mit dem Virus. Der war nicht mehr in deiner Zeus als wir die auf Terminus gefunden hatten. Haben den jetzt die Xenothreat?”
“Vermutlich. Die Xenothreat hatten uns entführt und die Zeus weggenommen.”
“Das finde ich bedenklich. Die Xenothreat hatten schon Einrichtungen und das UEE Militär in Stanton angegriffen. Wenn die jetzt einen Virus haben, der Sicherheitssysteme umgeht, will ich mir nicht ausmalen, was als nächstes kommt.”
“Finde ich auch bedenklich.”
Die Einrichtungen der Megakonzerne in Stanton und das UEE Militär waren mir reichlich egal. Aber wenn die Xenothreat gegen die freien Völker, auch hier in Pyro, vorgehen würden, war es mir nicht egal. Zudem war der Virus für mich als Hacker interessant. Zwei gute Gründe ihn zu finden und den Xenothreat weg zu nehmen.
Plötzlich hatte ich ein Signal auf dem Radar.
“Oh, da unten sind Quasi Grazer. Lust, mal einen zu streicheln?”, fragte ich Bru und setzte zur Landung an.
Nach der Landung näherte sich Bru vorsichtig den großen Tieren. Friedlich standen sie in einer Senke im roten Sand und frasen die wenigen Sträucher und Gräser. Die Quasi Grazer zu beobachten und ihr gleichmäßiges Kauen zu hören, konnte eine beruhigende Wirkung haben. Vielleicht war das ein erster Schritt für Bru, seine Balance nach all seinen Erlebnissen in Pyro wiederzufinden.

Plötzlich wurde die Stille durch ein entferntes Motorengeräusch zerrissen. Nur eine Sekunde später raste ein Hoverbike über den nächsten Kamm. Es war Husky. Nachdem er abgestiegen war, wechselte er einige Worte mit Brubacker. Irgendetwas war zwischen den beiden nicht in Balance. Ich lief auf den Dünenkamm und rief sie zu mir.
“Was seht ihr?”, fragte ich sie.
“Roten Sand und einen weißen Baum”, antwortete Husky.
“Und sonst?”
Stille. Beide standen neben mir und starrten in die Ferne, wo die Luft flirrte.
“Nichts”, sagte Brubacker schließlich.
“Ganz genau”, antwortete ich, “nichts. Das ist das Geheimnis der Wüste. Nichts das einen ablenkt. Keine schrille Neonbeleuchtung und akustische Beschallung wie in Stanton. Man ist alleine mit sich und kann seinen inneren Weg zur Mitte ungestört finden. Spürt den Atem der Wüste.”
Mehrere Minuten der Stille vergehen. Dann beendete ich den Moment der Meditation.
“Ich kenne hier in der Nähe einen See, da können wir in Ruhe was trinken.”
Wir machten uns auf den Weg, Husky auf dem Hoverbike, Bru und ich in der Cutter. Nach kurzem Flug landeten wir am Ufer des Sees, den ich bei meinem ersten Wüstentrip auf Monox gefunden hatte. Vor dem Hintergrund einiger steiler roter Klippen setzten wir uns am flach abfallenden Ufer hin und öffneten die erste Dose Rust. Husky donnerte derweil mit dem Hoverbike über das Wasser und zog eine Wasserfontäne hinter sich her. Jedesmal, wenn er vorbeifuhr, plätscherten größere Wellen an das Ufer. Es war ein wunderbarer Moment des Friedens.
Irgendwann zog sich Brubacker die Klamotten aus und ging ins Wasser, Husky gesellte sich dazu. Ich gönnte mir ein Rust nach dem anderen. Es hieß, mit Rust könne man den Rost von der Schiffshülle entfernen. Aber es reinigte auch von innen. Wie Feuer lief es die Kehle hinab und brannte die Anspannung aus einem heraus.

Nach einer Weile kam Brubacker aus dem Wasser und legte sich mit einem Rust ans Ufer. Mit sentimentaler Stimme fing er an zu erzählen. Ein wenig lallte er dabei.
“Wisst ihr eigentlich, dass ihr meine besten Freunde seid? Ich möchte euch noch was erzählen.”
Brubacker berichtete von einem Gespräch mit Friedrich Winters, in dem er einiges über seine Vergangenheit erfahren habe. Brubacker wurde als Kind entführt und sollte auf einem Sklavenmarkt verkauft werden. Im letzten Moment konnte er mit anderen Kindern gerettet werden. Niemand wusste, wer die Kinder waren und woher sie kamen. Friedrich Winters war bei der Rettung dabei und nahm Brubacker in seine Familie auf. Die Familie Winters gab Bru den Namen John Brubacker. Bru wuchs zusammen mit Husky auf, die beiden waren Stiefbrüder. Irgendwann trennten sich die Wege von Brubacker und der Familie Winters, bis sie sich Jahre später in Stanton über den Weg gelaufen waren. Allerdings hatten weder Husky noch Brubacker eine Erinnerung an die gemeinsame Kindheit, bis die Bilder der Vergangenheit bei ihrem gemeinsamen Trip in Pyro an die Oberfläche gespült wurden.
Ich nahm die Geschichte einfach so hin, auch wenn sie mir komisch vorkam. Brubacker hatte immer gesagt, er sei 700 Jahre alt und habe eine lange Zeit in einer Kryokapsel verbracht.
Der Stern von Pyro war mittlerweile weit gewandert und senkte sich gen Horizont. Von seiner brennenden Kraft hatte er aber noch nichts verloren.
“Bru, so kriegste garantiert nen Sonnenbrand”, sagte ich, während ich mir ein weiteres Rust gönnte.
Der hochprozentige Alkohol zeigte bei mir inzwischen eine deutliche Wirkung. Halbwegs bekam ich noch mit, wie sich Brubacker in Unterhose auf eine Wanderung begab. Husky hatte sich mit der Medgun irgendwelche Drogen verpasst und lag auf dem Boden. Nach zwei weiteren Rust schwankte ich am Ufer entlang und stolperte über die Klamotten von Brubacker. Meine Instinkte sagten mir “Die Wüste nimmt und die Wüste gibt”. Dann setzte mein bewusstes Denken und Handeln aus und wich einem Automatismus.

*
“Zero, hey…weisst du, wo meine Klamotten sind?”
“Die Wüste verschenkt nichts…die Wüste…”, stammelte ich.
“Ja, ja, ich weiss. Aber mir friert gleich der Hintern ab.”
“Die Wüste…”, stammelte ich weiter.
Dann schlug ich die Augen auf und fand mich im Bett der Cutter wieder. Brubacker stand neben mir und sagte erbost.
“Ein Wort noch. Meine Klamotten, meine Schuhe…”
“Hat mir die Wüste geschenkt”, sagte ich, während ich mich schwerfällig erhob.
Ich hatte einen totalen Filmriss und keine Ahnung, was mit den Klamotten von Brubacker war. Das einzige an was ich mich erinnerte, war Rust und ein Geschenk der Wüste.
Torkelnd verließ ich das Raumschiff und ging in die Nacht hinaus. Mit der Taschenlampe leuchtete ich das dunkle Ufer aus, damit Bru nach seinen Sachen suchen konnte. Ein Meer aus Sternen war über uns, das durch rotbraune Gasnebel durchzogen war. Ich ließ mich auf den Rücken fallen und gab mich dem Blick in die Unendlichkeit hin.
Irgendwann wurden meine Gedanken klarer und nach einer Behandlung mit der Medgun fühlte ich mich wieder flugtauglich. Auch Husky war wieder auf den Beinen und Brubacker hatte seine Klamotten im Schrank der Cutter gefunden. Wir beschlossen, zum Gemeinschaftshaus zurückzukehren.
Als wir dort ankamen, zeigte ich Brubaker und Husky die Höhle, in dem die Citizens for Prosperity ihre Notvorräte lagerten. Während wir durch den langen steinernen Gang der Höhle an den phosphoreszierenden Pilzen vorbei gingen, erzählte ich von der Legende des Propheten von Pyro.
“… es wird angenommen, dass die Stimme des Propheten, die von vielen in den Höhlen gehört wurde, eine akustische Anomalie ist, die durch das Zusammenspiel zwischen intensiven Sonneneruptionen und einer metallischen Mine verursacht wird. Aber wer weiss. Vielleicht haben sie nur zu viel an den Pilzen geschnüffelt. Also geht nicht zu nah ran”, sagte ich mit einem Wink in Richtung der leuchtenden Pilze in der Höhle.

Als wenn ich nichts gesagt hätte, oder ich war nicht deutlich genug, aber kurz darauf fanden wir Brubacker auf dem Bauch liegenden mit dem Kopf mitten in den Pilzen. Die phosphoreszierenden Sporen tanzten wie Leuchtkäfer um ihn herum. Brubacker war völlig weggetreten. Er stammelte etwas von einem Angriff der Vanduul, dass sie kommen würden, wir weg müssten. Dann erwähnte er immer wieder den gleichen Namen. Er müsse zu Bishop, er müsse dringend mit ihm reden.
Es war kein vernünftiges Gespräch mit Brubacker möglich. Brubackers Geist war in einer Parallelwelt, nur sein Körper war bei uns.
“Bru, ich bringe dich zu Bischop. Komm mit”, sagte ich mit sanfter Stimme zu ihm.
Mit viel Mühe brachten wir ihn in die Cutter. Wir flogen zur Raumstation Patch City und legten Brubacker in der Klinik auf ein Behandlungsbett. Ein Arzt fragte mich, ob Brubacker schon öfter einen Imprint hatte. Er hatte.
“Mh”, sagte der Arzt nachdenklich. “Könnte ein Traumatic Response Echo sein. Nicht mein einziger Patient mit Bewusstseinsstörungen. Ihr könnt im Moment nichts machen. Ich kümmere mich um ihn.”
Dann fiel mir ein, dass Xine mir erzählt hatte, dass es Probleme mit der Imprint Technologie gab und sie nicht mehr zuverlässig funktionieren würde. Ich konnte nur hoffen, dass der letzte Imprint von Bru fehlerfrei und er bald wieder auf den Beinen war.
Die Perspektive von Brubacker: https://sternenwanderer.org/jahr-2955#S15