Angekündigte Anschläge und Hilfslieferungen. Gut und Böse war eine Frage der Perspektive.
Der große Frachtraum erstreckte sich über zwei Decks. Auf dem oberen Deck war er von einer Galerie umgeben. Vereinzelt standen große Kisten mit Bierflaschen herum. In einer Ecke war ein Bereich durch Frachtcontainern als Umkleide abgegrenzt. Und mittendrin stand die gelbe Dragonfly von Hermieoth. Brubacker wollte, dass die Free Riders of Stanton standesgemäß auf der Party einreiten. Wir waren von Mr. Hide ausdrücklich zur Party auf der Starfarer eingeladen worden.
Das große Tankschiff war ein ungewöhnlicher Ort für eine Party. Aber doch irgendwie passend für die geladene Gesellschaft. Der dunkle industrielle Frachtraum passte viel mehr zu den Gästen, als der strahlende Glanz einer 890 Jump Luxusyacht. Es waren Menschen, die dem UEE und den Großkonzernen nicht unbedingt wohlgesonnen waren. Und genau deshalb hatte Mr. Hide die Free Riders of Stanton eingeladen. Weil wir uns gegen die Ungerechtigkeiten im UEE auflehnten, weil wir Hurston Dynamics mehr als einmal ans Bein gepinkelt hatten. Es war ein konspiratives Treffen an einem geheimen Ort, irgendwo im Weltall. Die Koordinaten hatten wir erst kurz vorher bekommen.
Zum Feiern war mir allerdings nicht zumute. Zu sehr hingen meine Gedanken den ungelösten Rätseln nach, denen wir auf der Spur waren. Sowohl die Suche nach den Forgotten15 als auch die Suche nach den Ursprüngen der Flüchtlinge aus Moreland Hills steckten in einer Sackgasse. Ich war zum Warten verdonnert. Warten, bis ich weitere Informationen bekommen würde. Ich hasste es, vor einem ungelösten Problem zu sitzen und nicht weiter zu kommen.
Während die anderen feierten, zog ich mich auf die Galerie zurück. Mit einer Bierflasche in der Hand schaute ich von oben auf das bunte Treiben im Frachtraum. Es wurde geredet und getrunken. Bier floss in rauen Mengen und die ersten fingen an zu wanken. Die Abgeschiedenheit auf der dunklen Galerie war mir deutlich lieber, als der Trubel im Frachtraum.
“Ich glaube die Free Riders of Stanton und wir haben einiges gemeinsam.”
Die Stimme von Mr. Hide riss mich aus meinen Gedanken. Fast unbemerkt hatte er sich in der Dunkelheit neben mich gestellt.
“Haben wir?”
“Ich habe gehört, dass Ihr schon so einiges für die Arbeiter nach Lorville geschmuggelt habt. Auch wir wollen gegen die Großkonzernen vorgehen und denen so richtig gegen das Schienbein treten. Vielleicht können wir gemeinsame Aktionen starten.”
“Unser Ziel ist es, den Unterdrückten zu helfen. Einen offenen Konflikt suchen wir nicht.”
“Wir wollen so richtig auf den Putz hauen. Wir planen Anschläge.”
“Anschläge sind nicht unser Ding. Ich persönlich arbeite lieber im Verborgenen. Außerdem kann man Anschläge auch ohne Waffen verüben.”
Mr. Hide schaute mich mit einem großen Fragezeichen im Gesicht an.
“Digital, mit einem Hacker-Angriff”, fing ich an, meinen Gedanken zu erläutern. “Dabei Informationen über die Ungerechtigkeiten der Konzerne stehlen und diese veröffentlichen.”
“Du bist also Hacker? Das könnte uns auch helfen. Hast Du ein Problem damit, wenn wir nach einem Hack von Dir einen Anschlag verüben?”
“Solange ich damit nichts direkt zu tun habe, könnt ihr machen, was ihr wollt. Hauptsache ich muss niemanden erschießen und es trifft nicht die Falschen.”
“Das ist ok. Lass uns unsere Kontaktdaten austauschen. Ich melde mich bei Dir”
Nachdem wir die Daten ausgetauscht hatten, ging Mr. Hide wieder nach unten zu den anderen. Ich blieb oben auf der Galerie und fragte mich, ob ich gerade einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. Andererseits hatte Hurston Dynamics es verdient. Der Megakonzern war so abgrundtief böse, so zerstörerisch, dass ich kein Mitleid mit ihm hatte. Oder waren wir die Bösen? Es war eine Frage der Perspektive, ob man gut oder böse war.
Ich nahm einen kräftigen Schluck aus der Bierflasche und schaute wieder auf das Treiben unten im Frachtraum. Brubacker versuchte in einem Boxkampf seine Kräfte mit einem der Wachen zu messen. Seine Schläge schienen ins Leere zu laufen, er selbst musste aber mächtig einstecken.
Cäcilia Abendroth gesellte sich zu mir.
“Und wie oft ist Brubacker schon zu Boden gegangen?”, fragte sie.
“Ich hab aufgehört zu zählen. Aber eines muss man dem Schreiberling lassen. Er ist ein Stehaufmännchen.”
*
Am nächsten Tag wachte ich ohne Nachwirkungen von der Party auf. Welche Kopfschmerzen Brubacker haben musste, wollte ich mir nicht ausmalen. Kopfzerbrechen bereitete mir allerdings die Nachricht, die ich von X bekommen hatte.
Lieber Zero Sense,
ich wende mich an Sie in der Hoffnung, dass Sie uns und den Benachteiligten helfen können. Unglücklicherweise gab es auf Hurston einen schweren Betriebsunfall. Die Situation im Krankenhaus von Lorville ist dramatisch. Da die Behörden den Vorfall vertuschen, gibt es keine Unterstützung für das Krankenhaus. Zu meinem Bedauern kann Crusader Industries nicht offiziell helfen. Das würde zu wirtschaftspolitischen Verwerfungen führen. Sie wären jedoch in der Lage, medizinische Güter nach Lorville zu bringen, ohne uns damit in Verbindung zu bringen. Sie können sich im Maria Pure Of Heart Krankenhaus vertrauensvoll an Becky wenden. Ich zähle auf Ihre Hilfsbereitschaft.
Hochachtungsvoll
X
Das war der erste inoffizielle Auftrag von Crusader Industries. Der Manager der Forschungs-, Entwicklungs- und Logistik-Abteilung hatte angekündigt, dass ich geheime Aufträge bekommen würde. Aber musste es ausgerechnet eine Lieferung nach Lorville sein? Ich hatte meine Akten bei Hurston Security zwar gelöscht, trotzdem blieb eine Unsicherheit. Gab es doch noch irgendwo Informationen über mich und würde Hurston Security mich wieder im Klescher Gefängnis einsperren?
Nachdem ich meine Star Runner mit medizinischen Gütern beladen hatte, flog ich zum Planeten Hurston und landete auf dem Teasa Spaceport in Lorville. Mit dem Aufzug fuhr ich vom Hangar zum Terminal. Die Tür öffnete sich rumpelnd und ich trat aus der Kabine, direkt in das Blickfeld einer Überwachungskamera. Vier gelbe Kameras hingen an einer Säule, eine blickte direkt auf mich. Ich blickte zurück und hatte das Gefühl, in das Auge zur Hölle zu schauen. Meine Nackenhaare stellten sich auf.
Nach ein paar Sekunden konnte ich mich aus meiner Starre befreien. Schnellen Schrittes ging ich in Richtung der Terminals, vorbei an gelb bezogenen Stühlen. In der Haupthalle sollte ich nach dem ausgestellten M50 Interceptor links abbiegen, um zur Metro zu gelangen. Aber ich ging geradeaus auf die Panoramascheibe zu. Ein innerer Widerstand hinderte mich daran, in die Innenstadt zu fahren. Minutenlang stand ich an der Scheibe und schaute hinaus auf Wolkenkratzer, Container, Kräne und Werbetafeln, während Raumschiffe starteten und landeten.
Irgendwann gelang es mir, den inneren Widerstand zu überwinden. Langsam wandte ich mich von der Panoramascheibe ab. Zuerst ging es eine breite Treppe hinunter. Ich folgte dem Gang, ging unter großen Ventilatoren hindurch, bis ich um eine Ecke kam. Plötzlich versagten meine Beine, sie weigerten sich, weiter zu gehen. Vor mir war eine Sicherheitsschleuse, darüber stand “Customs Area”. Vor der Schleuse stand ein Wachmann von Hurston Security in schwarz-gelber Rüstung mit einer Waffe in der Hand. Wie angewurzelt stand ich da.
Nach einigen Sekunden schaute die Wache mich an und winkte mich zu sich.
“Los! Weitergehen!”, bellte sie in einem strengen Befehlston.
Mit einem Kloß im Hals ging ich weiter. Der Wachmann beachtete mich nicht länger. Schließlich erreichte ich die Metrostation, in der überall Müll auf dem Boden lag. Außerhalb des Business Districts war Lorville immer noch das gleiche Drecksloch, wie ich es in Erinnerung hatte. Erst auf der Fahrt zum Metro Center ging mein Puls runter.
Auch im Metro Center lag überall Müll herum. Aber als ich das Krankenhaus betrat, war ich plötzlich in einer anderen Welt. Es war sauber. Die Architektur und die Materialien erinnerten an den Business District. Lautsprecherdurchsagen hallten durch die große Eingangshalle. Ansonsten war es ruhig. Es gab keine Hektik, nichts deutete auf einen großen Betriebsunfall hin.
Hinter dem Empfangstresen stand eine junge Frau mit peppiger Frisur. Sie trug einen gelben Krankenhauskittel und weiße Handschuhe. Irgendetwas sagte mir, dass ich bei ihr richtig war. Ich ging direkt auf sie zu und lehnte mich lässig an den Tresen.
“Ich suche Becky.”
“Du hast sie gefunden.”
“Oh. Ok. Ähm, also ich hab da eine Lieferung und soll mich an Dich wenden.”
“Etwa von einem gemeinsamen Freund? Ein Freund mit einem X?”
“Ja genau. Mein Raumschiff ist voll mit medizinischen Gütern.”
Becky schaute sich verstohlen um und fragte:
“Welcher Hangar?”
Nachdem ich ihr die Nummer gegeben hatte, gab sie etwas in ein Terminal ein.
“Alles klar. Wir kümmern uns um alles. Geh Du etwas essen. In einer Stunde kannst Du wieder zu Deinem Schiff. Und Danke.”
Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und ging auf den Haupteingang zu. Als ich an der großen Statue vor dem Ausgang vorbeikam, blieb ich stehen. Es war eine Statue von Maria Hurston. Sie hatte für eine bessere medizinische Versorgung für alle Angestellten von Hurston Dynamics gekämpft. Das Krankenhaus wurde nach ihr benannt. Ich erinnerte mich an das Dossier, das ich über sie in Orison gelesen hatte. Der Manager in Orison hatte mir erzählt, dass es in Lorville immer noch einflussreiche Menschen gab, die sich für das Gute einsetzten.
Etwas Gutes mitten im Zentrum des Bösen. Das war faszinierend. Gut und Böse war nicht nur eine Frage des Standpunktes. Manchmal musste man genau hinsehen, um das Gute zu erkennen. In dieser Welt des Bösen verbarg sich das Gute. Aber es war da, im Verborgenen. Selbst auf dem Planeten Hurston gab es neben dem Bösen auch das Gute.
Was auch immer Mr. Hide und seine Leute vorhatten. Ich musste dafür sorgen, dass er genau hinsah und nicht die Falschen traf.