In Stanton hatte ich verstörende Begegnungen.
Ich war auf dem Weg von Pyro in das Stanton-System. Und es war alles andere als ein Routineflug. Mein Frachtraum war voll mit hochwertigen Gütern, die ich in Stanton sehr gewinnbringend verkaufen konnte. Neben den legalen teuren Waren, hatte ich im Extra-Abteil der Star Runner eine kleine Auswahl an unterschiedlichen Drogen. Egal auf wen ich unterwegs treffen sollte, in jedem Fall war ich eine lohnende Beute.
Die größte Gefahr durch Piraten hatte ich bereits hinter mir. Dank meiner Stealth Komponenten konnte ich den Sprungpunkt in Pyro unbemerkt passieren. In wenigen Sekunden sollte mich das Wurmloch in Stanton ausspucken. Hier lauerte vor allem das Risiko, in eine Sicherheitskontrolle zu geraten.

Das Ende des Tunnels mit dem weiß-blau leuchtenden Rand war bereits zu sehen. Wie durch ein Periskop waren einige Asteroiden und das Pyro-Jumpgate schemenhaft zu erkennen. Dann passierte ich den Rand und materialisierte im Stanton-System.
Die Triebwerke brüllten auf, als ich vollen Schub gab. Plötzlich ein Stottern, ein Husten der Triebwerke und dann Stille. Die White Rabbit trieb antriebslos durch das Weltall. Ich hatte keine Ahnung, was passiert war. War es eine neuartige Waffe, um Schiffe aufzubringen? Das Radar zeigte keine Kontakte an. Auch durch das Cockpitfenster war keine Bedrohung zu sehen.
Mein beständiges Betätigen des Triebwerks-Schalters quittierte er mit einem schmerzhaften Klicken. Keine Reaktion. Der Antrieb war tot. Und jetzt? Verzweifelt ließ ich mich in die Lehne des Pilotensitzes fallen und stieß eine große Menge Luft aus meinen Lungen aus. Beim Einatmen stieg mir ein beißender, verbrannt riechender Duft in die Nase.
Schlagartig sprang ich auf. Aus dem Sicherungskasten hinter dem Pilotensitz waberte eine kleine Rauchwolke, die das rote Licht der Kontrolllampe reflektierte. Die Sicherung war durchgebrannt. Zum Glück hatte ich Ersatz dabei und konnte den Defekt schnell beheben. Anschließend setzte ich meinen Flug zum Planeten Hurston fort.
Bei meiner Ankunft erwartete mich eine dichte, braune Wolkendecke. Der knapp über dem Horizont stehende Stern Stantons sendete ein warmes Licht in das Cockpit. Es war eine Weile her, seit ich das letzte mal diesen verdreckten Planeten betreten hatte. Vermisst hatte ich ihn nicht. Beim letzten Besuch war ich nur kurz auf dem Dach eines Hochhauses in der Hauptstadt Lorville gelandet.
Schnell tauchte die White Rabbit in das Wolkenmeer ein, sofort verdunkelte sich das Licht des Sterns. Kaum hatte ich die untere Wolkengrenze durchbrochen, waren die Lichter des Außenpostens in der Dämmerung zu sehen.

Nach der Landung löschte ich meine legale Fracht und ging zur Verwaltung, um den Verkauf abzuwickeln. Der Verwalter begrüßte mich freundlich.
“Freut mich, dass sie hier sind und wichtige Waren bringen. Gar nicht mehr so selbstverständlich in diesen Tagen. Sind Sie gut durchgekommen?”
“Ja, es gab keine Probleme, außer einer durchgebrannten Sicherung. Warum fragen Sie?”
“Die Headhunter streben nach Stanton, um hier ihr Unwesen zu treiben.”
“Meinen Sie die Headhunter aus dem Pyro-System?“
“Ja genau. Erst die Xenothreat, dann die Slicers und jetzt die Headhunter. Das ist schlecht für das Geschäft. Pyro bringt uns nichts Gutes.”
“Meine Fracht ist aus Pyro. Und irgendwie bekommt Stanton das hin. Die Nine Tails sind ja schon lange hier. Da kommt es auf eine weitere Fraktion nicht an.”
“Na ja. Sieht so aus, als ob die Sicherheitskräfte regelmäßige Patrouillen etablieren wollen. Trotzdem ist das Timing wirklich schlecht. Eine steigende Anzahl von Gefechten, ausgerechnet jetzt in der Regen-Krise.”
“Welche Regen-Krise?”
“Ja haben Sie die New United nicht gelesen? Die Regenerations-Technologie arbeitet nicht mehr zuverlässig. Jede Menge Menschen sind gestorben, endgültig. Das ist eine Tragödie.”

Ich erinnerte mich daran, dass Xine mir davon erzählt hatte. Trotzdem erschreckte mich die Reaktion des Verwalters. Es war typisch für jemanden aus der privilegierten Gesellschaft. Er beklagte den Ausfall einer Technologie, die nicht jedem zur Verfügung stand. Nicht jeder konnte sich einen Imprint leisten oder hatte Zugang dazu. Und dass er keinen Bezug zu den einfachen Menschen oder den freien Völkern hatte, zeigte auch seine Aussagen zu den Headhuntern. Es störte ihn, dass sie schlecht für das Geschäft waren. Aber er erwähnte nicht, dass sie problematisch für die Menschen sein könnten, außer für die, die sich einen Imprint leisten konnten.
Es war ein seltsam beklemmendes Gefühl, wieder in Stanton zu sein. Die ganze Struktur und Ordnung, die es hier gab, wirkte auf mich abschreckend. Nicht dass ich den Müll auf den Raumstationen in Pyro bevorzugte, aber die auferlegte Struktur in Stanton machte die Menschen unfrei. Sie zwängte die Menschen in ein vorgegebenes Raster. Es gab wenig Raum für wirkliche Freiheit. Für Freiheit, wie sie die freien Völker hatten.
Ich verabschiedete mich von dem Verwalter und machte mich auf den Weg nach Grim Hex, der Piratenstation im Asteroidengürtel des Mondes Yela. Die Oase in Stanton, in der man frei von den Zwängen des UEE und der Megakonzerne sein konnte. Dort wollte ich die Drogen verkaufen.
Als ich den Asteroidengürtel erreichte, fielen mir als erstes die vielen Kontakte auf dem Radar rund um die Station auf. Irgendetwas ging dort vor sich. Schnell gleitete die White Rabbit zwischen den Asteroiden hindurch. Die Station kam immer näher. Als erstes sah ich eine Polaris, ein militärisches Großkampfschiff, direkt neben der Station, dann mehrere Jäger.
Ohne zu bremsen donnerte ich auf die Raumstation zu. Geschwindigkeit war die Stärke der Star Runner. Egal was um die Station herum los war, diese Stärke wollte ich ausspielen. Während ich den Asteroiden passierte, bekam ich einen Hangar zugewiesen. Vorsichtig bewegte ich das Steuerrad. Die Manövrier-Düsen zündeten passend zu meinen Eingaben. Die White Rabbit drehte sich um 180 Grad und flog rückwärts. Dann kamen die Hangartore in mein Sichtfeld. Ein ohrenbetäubender Lärm dröhnte schlagartig durch das Raumschiff. Die Haupttriebwerke stemmten sich mit aller Macht gegen den Rückwärtsflug. Die Geschwindigkeit der Star Runner fiel rapide, erreichte null und stieg dann wieder im Vorwärtsflug. Wie ein Pfeil schoss sie durch das offene Hangartor und setzte kreischend und Funken stiebend im Hangar auf. Erschöpft fiel ich in den Pilotensitz zurück und wischte mir den Schweiß von der Stirn.
Nachdem ich die Drogen in den Frachtaufzug der Station geladen hatte, fuhr ich mit dem Aufzug in die Lobby. Die Fahrstuhltür öffnete sich, ich ging drei Schritte in die Lobby, verharrte für eine Sekunde und dann zwei Schritte wieder rückwärts. Entsetzt starrte ich auf die Szenerie vor mir.
Der Boden vor den Terminals war übersät mit Leichen. Es waren aber nicht die in Grim Hex üblichen Alkoholleichen. Die Toten trugen alle Rüstungen und Waffen. Sie waren gut ausgerüstet. Vorsichtig ging ich einige Schritte auf die am Boden liegenden Körper zu. Mein Herz schlug so laut, dass es vermutlich in der halben Station zu hören war.

Plötzlich dröhnten laute Schritte durch den Gang, ein Typ kam um die Ecke gerannt und rannte mich fast um. Er trug einen Helm mit rotem Haarkamm und einem Totenkopf auf dem Gesichtsfeld. Eine Ausrüstung, die ich aus Pyro von den Headhuntern kannte. So schnell er gekommen war, verschwand er in einem Fahrstuhl zu den Hangars.
Mit zitternden Händen fuhr ich in die untere Ebene. Kreischend öffnete sich die Fahrstuhltür. Ich stand vor der old38 Bar. Es war totenstill. Keine Türsteher waren zu sehen und keine Gäste. Nur Leichen lagen überall auf dem Boden. In der Hoffnung, jemanden von TYR zu treffen, ging ich in die Bar. Doch die Bar war leer. Plötzlich ließ eine starke Explosion die Station erbeben. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Was sollte ich tun? Verstecken? Verschwinden?
Nur eine Minute später dröhnten die Triebwerke auf Höchstleistung und katapultierten die White Rabbit wie ein Geschoss aus dem Hangar. Schnell wurde Grim Hex hinter mir kleiner. Als ich in sicherer Entfernung war, veröffentlichte ich eine Meldung auf dem CommRelay, mit der ich andere über das, was ich auf Grim Hex beobachtet hatte, informieren wollte.
Auf Grim Hex gab es ein Massaker. Leichen lagen überall in der Station. Es waren aber nicht die üblichen Alkoholleichen. Diesmal waren es gut ausgerüstete Personen. Ob es einen Zusammenhang mit den Headhunter gibt, die laut der Zeitung ‚New United‘ nach Stanton streben ist unklar. Es wurde aber eine Person in der Station gesehen, die eine für die Headhunter typische Rüstung trug. Und diese Person war am Leben.
Es dauerte nur wenige Minuten bis die ersten Antworten im Intercomm erschienen. Ungläubig starrte ich auf den Bildschirm. Mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Vor mir flackerten aggressive Kommentare, Worte, in denen viel Gewalt lag und Gewalt angedroht wurde. Es war unglaublich, ein rauer Wind wehte mir entgegen, nur weil ich über ein Ereignis berichtet hatte.
Die Kommentatoren waren nicht in der Lage oder Willens eine neutrale Beobachtung als solche zu akzeptieren. Sie legten eine Interpretation in meine Worte. Sie interpretierten und bewerteten nur aus ihrer Perspektive und verweigerten einen neutralen Standpunkt. Neutralität wollten sie nicht einmal akzeptieren.
Enttäuscht fiel ich in die Rückenlehne zurück. Die Kommentare kamen vor allem von Leuten, die ich aus Grim Hex kannte, Menschen, die sich selbst Grim Necks nannten. Meine Versuche, klar zu machen, dass es um eine wertfreie Beobachtung ging, waren erfolglos. Sie interessierten sich nicht für neutrale Fakten. Im Prinzip waren sie nicht anders als das UEE und die Megakonzerne. Sie verfolgten nur ihre eigene Agenda. Das UEE strebte nach Macht, die Megakonzerne nach Profit und diese Typen nach Gewalt. Für die einfachen Menschen, die in Freiheit leben wollten, interessierten sie sich nicht.
Ich musste an den Artikel denken, den ich im Flatcat Magazin gelesen hatte. Darin kritisierte ein Philosoph die strukturelle Ignoranz der Megakonzerne gegenüber der schutzlosen Bevölkerungsgruppe, die Squatter genannt wurde. Menschen, die in verlassenen Anlagen lebten, wie in Weeping Cove auf Hurston. Die Squatter waren oft Opfer von Armut, Vertreibung oder bewusste Aussteiger. Auch auf Grim Hex hatten die Squatter einst in Freiheit gelebt, bis die Nine Tails die Station übernommen hatten. Und was machten die Grim Necks? Anstatt sich für diese Menschen einzusetzen, suchten sie nur Streit.
Es war an der Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen. Aber schweigen wollte ich nicht.
NEVER SILENT