Log #167 – Die Reclaimer

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In einer abgestürzten Reclaimer fand ich Spuren der Crew und Erinnerungen an alte Zeiten.


Mühsam kämpften wir uns durch dichte Vegetation und unwegsames Gelände. Es war stockdunkel. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Nur der Sternenhimmel glänzte in einer strahlenden Pracht über uns. Der Wind war so kräftig und laut, dass ich selbst über Funk Hermieoth nur schwer verstehen konnte. Wir waren auf dem Weg zur abgestürzten Reclaimer. Um unentdeckt zu bleiben, landeten wir mit der White-Rabbit drei Kilometer entfernt von der Absturzstelle. Eigentlich wollten wir das letzte Stück mit der Dragonfly fliegen. Doch die wollte nicht. Der Kühler war defekt. Tolle Qualität, die Drake liefert. Als wenn ein Kühler auf dem Eisplaneten Microtech viel leisten müsste. 

Nachdem ich in der verlassenen Siedlung am Fluss Notizen der Crew aus einer abgestürzten Reclaimer gefunden hatte, machte ich mich auf die Suche nach den Überlebenden. In New Babbage fand ich weitere Hinweise. Schließlich bekam ich einen Tipp, wo ich das Wrack der Reclaimer finden würde. Die Mannschaft des Bergungsschiffes war an der Absturzstelle von Nine Tails angegriffen worden. Ich musste davon ausgehen, dass ich dort auf feindliche Piraten treffen würde. Deshalb hatte ich Hermieoth gebeten, mich zu begleiten. Doch die Nine Tails waren nicht meine einzige Sorge. 

Vor dem Abflug hatte mich Hermieoth vor Ray Keaton gewarnt. Bisher war ich davon ausgegangen, dass meine erste Begegnung mit Ray beim Ausflug mit F.R.O.S. gewesen war. Doch dem war nicht so. Hermieoth erzählte, dass Ray einer der Leibwächter von Eris gewesen war, damals auf der Renaissance. Wir hatten ihn und Eris bei dem Einsatz betäubt und auf Grim Hex in einer Cutlass Red zurückgelassen. Wegen der Aktion war Ray auf Rache aus. Hermieoth wurde von ihm schon in die Pfanne gehauen. Höchstwahrscheinlich hatte es Ray auch auf mich abgesehen.

Aber warum Rache? Mir wollte nicht in den Kopf warum Ray einen Groll hegte. Er wurde nicht verletzt. Geistig abwesend, stapfte ich durch die Nacht. Meine Gedanken kreisten um die Ereignisse von damals. Plötzlich kreiste die Welt um mich. Ich blickte direkt in den Sternenhimmel, dann auf den Boden, dann wieder in den Sternenhimmel. Nach einer wilden Rutschparty den steilen Hang hinunter lag ich einige Meter tiefer im Dreck. Matsch klebte auf dem Visier meines Helms. Was für ein Mist. Der Blödsinn mit Ray lenkte mich ab. Ich musste die Sache aus dem Kopf bekommen und mich wieder auf das Hier und Jetzt konzentrieren. 

Nachdem ich mich wieder aufgerappelt hatte, liefen wir weiter den Berg hinauf. Irgendwann konnten wir durch die Bäume unter uns im Tal den Lichtschein eines Feuers sehen. Wir hatten die Absturzstelle fast erreicht. 

Im Gegensatz zu mir war Hermieoth voll bei der Sache und hatte einen guten Blick auf die Lage.

“Da oben vom Felsen müssten wir die Absturzstelle einsehen können. Lass Deine Helmlampe aus. Nicht dass uns noch einer sieht.” 

Hermieoth war schon fast auf dem Felsen, während ich immer noch versuchte, den Schlamm von meinem Visier zu wischen. 

“Ich glaube, ich sehe jemanden.” 

Hermieoth musste Adleraugen haben. Ich konnte absolut nichts erkennen. Mit dem Scharfschützengewehr wollte ich mir einen Überblick verschaffen. 

“Na toll. Das Zielfernrohr ist weg. Muss es bei meinem Sturz verloren haben. Ich kann nicht sehen, ob jemand beim Wrack ist. Ich glaube, im Hellen sind wir besser dran.”

Wir warteten, bis der Zentralstern von Stanton über den Horizont geklettert war. Im Tageslicht schlichen wir uns durch die Büsche. Das Wrack der Reclaimer war kaum zwischen den dichten Blättern zu sehen. Geschweige denn die Nine Tails. Anscheinend war ich nicht der einzige, der angespannt war. Immer wieder fragte Hermieoth, ob ich jemanden sehen könne. Natürlich sah ich was. Blätter, jede Menge grüne Blätter. 

Plötzlich stand wie aus dem Nichts eine rostig braune Stahlwand vor mir. Das Wrack der Reclaimer, wir hatten es erreicht. Das gigantische Bergungsschiff war in der Mitte auseinandergebrochen. Zwischen den beiden Hälften befand sich eine freie Fläche. Es wirkte wie ein Innenhof von einer Wohnanlage. Das ganze Wrack sah aus wie ein mehrstöckiges Wohnhaus. Balkone waren aus Stahlplatten errichtet worden. Darüber wehten Sonnensegel aus Tüchern. Es gab mehrere Ebenen mit Flächen, Öffnungen und Leitern. Überall konnten die Nine Tails lauern.  

Das Wrack musste schon lange hier liegen. Die Stoffe der Sonnensegel waren an den Rändern zerfetzt. Herausgebrochene Stahlwände brachten das innere Gerippe des Schiffes zum Vorschein. Die Natur hatte ihre grüne Hand nach dem Schiff ausgestreckt. Machte das Wrack zu einem Teil der Landschaft. Pflanzen wucherten über die rostige Schiffshülle. Wie ein Wasserfall ergossen sich Ranken über die Außenhaut.

Vorsichtig schlichen wir um die Absturzstelle und hielten Ausschau nach den Nine Tails. Es herrschte eine gespenstige Ruhe. Hermieoth entdeckte als erster einen Zugang ins Innere des Wracks. Die Pflanzenwelt hatte sich auch hier ausgebreitet. Es raschelte und knirschte unter den Stiefeln. Doch je tiefer wir in das Innere vordrangen desto düsterer wurde es. Nur ein schwaches Licht erreichte die Innereien des Wracks. Es war unheimlich. Schatten tanzten über die Wände. Sie zerrten an unseren Nerven. Plötzlich hallte ein Schrei durch die Gänge. Er war so intensiv, dass der Funk bebte.

“Zero, alles ok?” Hermieoth flüsterte fast.

Wie angewurzelt stand ich in den Überresten des Cockpits und starrte auf den Co-Piloten-Sitz. Jemand saß darauf. Ein Stahlträger ging durch den Sitz und kam aus der Brust heraus. Unter dem Helm befand sich eine Fratze. Haut und Fleisch waren nicht mehr existent. Nur die blanken Knochen des Schädels waren noch übrig.

“Ja, alles ok. Ich hab mich nur zu Tode erschrocken. Hier sitzt noch jemand von der Crew.”

“OK. Lass uns zum Heck gehen. Vielleicht erkennen wir den Namen des Schiffs.”

Durch die zerbrochene Cockpitscheibe gelangten wir ins Freie. 

So langsam hatte ich mich von meinem Schrecken erholt und konnte wieder klar denken. “In den Notizen der Crew stand, dass sie von den Nine Tails verfolgt wurden. Die sind wohl nicht wieder zurückgekommen.” 

Hermieoth war nicht überzeugt. “Lass uns trotzdem vorsichtig sein. Kannst Du den Namen des Schiffs erkennen?”

“Nein. Alles verrostet und unkenntlich. Vielleicht finden wir Hinweise im Quartier des Kapitäns.”

Über eine Leiter erreichten wir die obere Ebene des Hecks. Der Gang zu den Quartieren sah fast einladend aus. Rankenpflanzen überwucherten die Wände und den Boden. Es wirkte fast wie ein botanischer Garden. Das Quartier des Kapitäns befand sich auf der rechten Seite.

Im Quartier stand gleich links ein Schreibtisch. Er war bedeckt mit Staub und Erde. Mit dem Handschuh wischte ich die Tischplatte frei. Eine Gravur kam zum Vorschein. Sie war kunstvoll angefertigt. Eine Handwerkskunst, die es in den industrialisierten Gebieten des UEE nicht gab. Nur jemand, der die Freiheit hatte, sich Zeit zu lassen, stellte so etwas her. Eine Freiheit, die es nur im Grenzland gab. Es war eine individualistische Fertigung, wie ich sie aus dem Basar der Olympus im Nul System kannte. Und speziell diese Gravur auf dieser Schreibtischplatte kannte ich. Der Schriftzug auf der Gravur drückte den Geist der freien Völker des Grenzlandes aus.

Freiheit, Gleichheit, Unabhängigkeit

Hypnotisiert schaute ich auf die Gravur. Das war der Beweis. Dies war die Reclaimer, auf der ich im Nul System gearbeitet hatte. Es war der Kapitän des Bergungsschiffes, der die Gravur hatte anfertigen lassen. Ich war so perplex, dass ich mich nicht an seinen Namen erinnern konnte. In meinem Kopf erlebte ich eine Achterbahnfahrt durch Erinnerungen. Das Kopfkarussell stoppte bei den Notizen, die ich bei der verlassenen Siedlung am Fluss gefunden hatte. Die Notizen vom Kapitän und dem Crewmitglied. Sie waren auf der Flucht. Vielleicht lebten sie noch. Ich musste zurück nach New Babbage und sie finden. Jetzt, wo ich wusste, wer sie waren, hatte ich eine Chance.