Log #163 – Datensicherung in Orison

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Mitten in einer Kampfzone musste ich Daten sichern. Die Gefahr war allgegenwärtig und wurde real.


Der Anblick war beängstigend. An der Shuttlerampe waren gefüllte Leichensäcke aufgereiht. Mehrere Personen lagen auf dem Boden und auf Tragen. Ein paar Meter entfernt standen Sichtschutzwände. Dahinter kümmerten sich Ärzte um Verletzte. Waren es wirklich Verletzte? Oder Tote? Oder irgendwas dazwischen? Regenerierten die Toten jetzt irgendwo durch einen Imprint in einem neuen Körper? Oder waren sie endgültig ausgelöscht? Wiping oder Ghosting nannten es Gesetzlose, wenn sie jemanden so töteten, dass er nicht mehr regenerieren konnte. Diese Imprint Technologie überstieg meine Vorstellungskraft. Sterben und dann wieder in einem neuen Körper aufwachen. Konnte das gut gehen? Was war mit der Seele? Wurde die auch transferiert? Oder blieb eine verlorene Seele zurück und der neue Körper hatte nur Erinnerungen? 

Die Durchsage, dass das nächste Shuttle ankam, riss mich aus meinen Gedanken. Es war mein Shuttle. Das Shuttle in die Verdammnis. Der immer noch unbekannte und mysteriöse  X hatte mich gebeten, Daten in einem Forschungslabor zu sichern. Es waren nicht irgendwelche Daten, sondern die Baupläne für die Computerplatinen, die ich vor kurzem für ihn bergen musste. Dummerweise war das Labor  auf einer der Plattformen in Orison, die von den Nine Tails belagert wurden. Die Daten mussten gesichert werden, bevor die Nine Tails sie in die Hände bekamen. Das Shuttle brachte mich direkt in die Kampfzone. War ich die nächste verlorene Seele? Während ich einstieg, nickte mir die Wache auf der Shuttlerampe zu. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals.

Nach einer längeren Fahrt stieg ich aus dem Shuttle und befand mich in einer anderen Welt. Das so schöne und ausgeglichene Orison sah aus wie nach einem Asteroideneinschlag. Zwischen den rosa Blüten lagen leblose Körper, Trümmerstücke waren überall verstreut, Rauch stieg auf. Die anderen Personen aus dem Shuttle stürmten nach vorne. Sie waren von der CDF, der Civilian Defence Force. Sollten sie ruhig vorgehen, ich sicherte lieber von hinten. Die Plattform war langgezogen. Bars, Restaurants und Sitzgelegenheiten befanden sich darauf. Es sah aus wie eine Vergnügungsmeile. Ein Stück entfernt lag ein umgestürzter Greycat Buggy. Er brannte. Am Ende der Plattform befand sich ein Hochhaus. Darin war das Labor. Schüsse von leichten Maschinenpistolen und schweren Maschinengewehren waren zu hören. Ein langer Weg voller Hinterhalte und Gefahren lag vor mir. Zu meinem Kloß im Hals gesellte sich ein flaues Gefühl im Magen.

Irgendwie schaffte ich es, am Rande der Plattform unbemerkt bis zum Hochhaus zu schleichen. In der Lobby traf ich die anderen von der CDF wieder. Für einen kurzen Augenblick war ich erleichtert. Dann stiegen wir alle in den Fahrstuhl und fuhren nach oben. Alle Waffen waren auf die Tür gerichtet. Als sie sich öffnete, brach die Hölle los. Ein ohrenbetäubender Lärm durchbrach für wenige Sekunden die Stille. Mehrere Nine Tails fielen zu Boden. Die CDF Kämpfer stürmten vor. Ich ging nach links in ein Büro. Der ganze Raum war voller Schreibtische mit Monitoren. An den Wänden hingen Plakate von Crusader Schiffen. Es war das Entwicklungslabor. Außerhalb des Büros waren immer wieder Schüsse zu hören. Ich suchte mir einen Computer in der Ecke, von dem aus ich den kompletten Raum überblicken konnte. 

Mit den Zugangscodes von X kam ich ohne Probleme in das System und sicherte die Daten. Ich wollte gerade wieder gehen, als mir eine Datei auffiel. Neugierig öffnete ich sie. Darin fand ich Protokolle und Pläne für Transporte. Es sah so aus, als ob X die Computerplatinen und andere Güter an Orte außerhalb des Stanton Systems brachte. In Systeme, die nicht unter der Kontrolle des UEE lagen. Bei meinem Bergungsauftrag hatte X erwähnt, dass die Platinen für Menschen seien, die die Technik dringend benötigten, aber keinen Zugang zu der Technologie hatten. Wer waren die Empfänger der Lieferungen? Ich suchte weiter, vergaß alles um mich herum, die Kämpfe, das Chaos. Es war wie in einem Tunnel. Meine ganze Konzentration war auf die Dateien gerichtet. Ich wollte herausfinden, wen X belieferte. Wer X war.

Irgendwann fiel mir auf, dass keine Schüsse mehr zu hören waren. Es war still, beängstigend still. Die CDF Kämpfer waren nirgends zu sehen. Ich war alleine. Oder doch nicht? Durch ein Fenster konnte ich eine Bewegung ausmachen. Jemand in einer dunklen Rüstung mit einem rosa Zeichen. Eine stilisierte Neun. Die Erleichterung, nicht alleine zu sein, wich schlagartig dem Entsetzen. Es war ein Nine Tail. Und er war nicht alleine. Eine ganze Gruppe durchsuchte systematisch das Stockwerk. Noch hatten sie mich nicht gesehen, doch ich saß in der Falle. Verängstigt stand ich in der Ecke und suchte einen Ausweg. Mir blieb nur eine Chance. Unbemerkt zum Fahrstuhl zu kommen. Und zwar pronto. Aber ich hatte noch nicht alle Daten angeschaut. Ich wusste noch nicht, wohin die Lieferungen von X gingen. Wem half er? Wer war er? Die Nine Tails kamen immer näher. Einer lief direkt zum Fahrstuhl, meiner einzigen Fluchtmöglichkeit. Das Zeitfenster, um unbemerkt zu verschwinden, schloss sich. Meine Hände lagen immer noch auf der Tastatur. In diesem Computer befanden sich die Antworten, die ich suchte. Ich brauchte noch ein wenig Zeit, nur einige Sekunden. Mein Blick richtete sich zum Fahrstuhl. Unentschlossen verharrte ich. Befehle der Nine Tails waren zu hören. Schließlich schnappte ich mir den Datenstick, auf dem ich die Pläne der Computerplatinen gesichert hatte und trat den Rückzug an. 

Unbemerkt erreichte ich den Fahrstuhl. Kniend versuchte ich mich in der Ecke zu verstecken. Einen wirklichen Sichtschutz hatte ich nicht. Einer der Nine Tails lief direkt auf mich zu. Mehrmals drückte ich auf den Knopf, doch die Tür schloss sich nicht. Der Nine Tail schaute nach links, dann nach rechts. Ich hob meine Waffe und nahm ihn ins Visier. Dann schaute der Nine Tail direkt zu mir. 

“Tu es nicht”, schoss es mir durch den Kopf. “Lass die Waffe unten.”

Der Nine Tail richtete seine Waffe auf mich, ich drückte ab, die Fahrstuhltür ging zu.

Unten angekommen, nahm ich den gleichen Weg zurück zur Shuttlerampe, den ich auf dem Hinweg genommen hatte. Unterwegs fand ich hinter einem Baum einen CDF Kämpfer. Er lag bewusstlos auf dem Boden. In seiner leichten weißen Rüstung wirkte er gar nicht wie ein Krieger. Er schien schlecht ausgerüstet für den Kampf. Kopfschüttelnd musste ich daran denken, wie die Sicherheitskräfte immer wieder Zivilisten für den Kampf akquirierten, anstatt aus eigener Kraft für Sicherheit zu sorgen. Dieser arme Kerl war eines der Opfer der unzureichenden Fähigkeiten der lokalen Sicherheitskräfte, des UEE und der Advocacy. Die Megakonzerne verdienten einen Haufen Geld und das auf dem Rücken der Bevölkerung. Noch nicht mal in die Sicherheit investierten sie ausreichend. Wut stieg in mir auf. Wut auf das Empire, auf die Megakonzerne. Den armen Kerl wollte ich nicht einfach liegen lassen. Gerade als ich anfing, ihn mit dem Meditool zu behandeln, hörte ich das Pfeifen von Kugeln. Dann hörte ich nichts mehr. Alles um mich herum verschwamm und wurde schließlich schwarz. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, dass meine Seele meinen Körper verlassen hatte und mich neben dem Kerl in der weißen Rüstung auf dem Boden liegen sah.

*

Langsam wurde die Schwärze lichter, mein Blick klarer. In einem OP-Hemd saß ich auf einem Stuhl hinter Sichtschutzwänden. Um mich herum lagen andere Personen nur mit Unterhose bekleidet. Ein Arzt kam auf mich zu.

“Meine Rüstung. Der Datenstick. Wo…”, stammelte ich kraftlos.

“Nicht anstrengen”, erwiderte der Arzt mit ruhiger Stimme. “Wir haben sie stabilisiert. Noch sind sie nicht über den Berg.”

Wie wenn jemand langsam das Licht herunter dimmt, wurde es wieder dunkler um mich herum.

*

Es fühlte sich an wie nach einem langen, traumlosen Schlaf. Ich war in einem Zimmer im Krankenhaus in Orison aufgewacht. Außer dem OP-Hemd hatte ich nichts an. Meine Ausrüstung war nirgends zu sehen. Noch viel schlimmer, der Datenstick mit den Bauplänen war auch weg. Noch etwas schlaftrunken schaute ich mich um und öffnete schließlich die Tür. Ein Mann in einem Arbeitsanzug von Crusader Industries stand davor.

“Bin ich geprintet?”, fragte ich etwas verwirrt.

“Was meinen Sie?” 

Ich hatte wohl Blödsinn geredet. “Ja, also Imprint und neuer Körper und so.” 

“Ach so”, der Mann lachte kurz. “Nein. Ihre Verletzungen konnten behandelt werden. Sie sind quasi taufrisch in Ihrem alten Körper. Im Green Circle wurde ein Zimmer für Sie reserviert. Dort sind auch Ihre Sachen. Gute Besserung noch.”

Kurz darauf betrat ich das Zimmer im Green Circle. Neben meinen Sachen lag ein Zettel auf dem Tisch.

Lieber Zero Sense,
erneut war Ihre Hilfe von großem Nutzen. Dafür möchte ich mich zutiefst bei Ihnen bedanken. Die Baupläne für die Computerplatinen konnten vor dem Zugriff durch falsche Hände geschützt werden. Dank Ihres überaus geschätzten Einsatzes.
Ich hoffe, Sie können sich gut von Ihren Verletzungen erholen. Ihnen stehen dafür alle Möglichkeiten in Orison zur Verfügung. Selbstverständlich kostenlos.
Sollte es Ihnen an irgendetwas fehlen, melden Sie sich bitte an der Rezeption.
Hochachtungsvoll X

Mit dem Zettel in der Hand ließ ich mich auf das Sofa fallen. Der Einsatz war wohl doch ein Erfolg. Zumindest für X. Für mich blieb ein Gefühl der Unzufriedenheit. Meine Fragen waren nicht beantwortet. Weder wusste ich wen X belieferte, noch zu welchem Zweck. Auch X selbst blieb ein Mysterium. Dabei war ich den Antworten so nahe.