Neuer Mut und neue Wege erschienen wie die Sonne am Morgen.
Ich wanderte durch die unendlichen Weiten der Wüste. Hinter mir Spuren im Sand, die der Wind verwehte. Vor mir eine ungewisse Zukunft. Niemand konnte erahnen, woher ich kam und wohin ich ging. Ich war auf der Suche nach Klarheit, Frieden und meiner inneren Mitte. Die Regeneration nach meinem Tod im Lazarus-Komplex hatte mich aus der Balance geworfen. Mein Geist war in Panik, er taumelte wie ein Schiff im Solarsturm – ziellos, getrieben von Erinnerungsfetzen und Angst. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen und meinen Freunden keine Hilfe sein. Erst musste ich den Weg zu meiner Mitte finden, bevor ich einen Weg zur Lösung der dunklen Geheimnisse der ASD erkennen konnte.
Mühsam zog ich die Stiefel aus und spürte, wie meine Füße in den weichen, heißen Sand einsanken. Ein brennender Schmerz erfasste meine Fußsohlen und vertrieb die Panikattacken. Sie machten Platz für frische Gedanken. Die ASD hatte alles aufgeboten und uns fertiggemacht. Aber ihre Geheimnisse konnten sie nicht bewahren – oder doch? Zwar hatten wir ihre geheimen Experimente mit Valakkar-Eiern aufgedeckt, aber irgendetwas war da noch. Wir hatten Hinweise auf weitere geheime Experimente mit Vanduul-Bioflüssigkeit und einem Projekt namens Hyperion an einem Ort namens Onyx gefunden. Allerdings hatten wir mehr Fragen als Antworten. Es war noch nicht vorbei und wir mussten davon ausgehen, dass wir gejagt wurden.
Nach einer langen Wanderung durch die Nacht erreichte ich den See, an dem ich mit Brubacker und Husky gewesen war. Der Sternenhimmel spiegelte sich auf der ruhigen Wasseroberfläche. Ich nahm am Ufer Platz und hatte die Sterne zu meinen Füßen. Der Blick in den Sternensee brachte mir zwar innere Ruhe, aber keine Antworten auf unsere Fragen. Der einzige Strohhalm, den wir hatten, war die Ermittlungsagentur Hockrow Agency, die mich bereits beauftragt hatte, Informationen über Dr. Jorrit, den Chefwissenschaftler der ASD, zu sammeln. Doch wie sollte ich Hockrow kontaktieren, ohne Spuren zu hinterlassen und ohne von der ASD entdeckt zu werden?

Langsam warf der Stern Pyros sein erstes Licht über den Horizont. Kurz darauf stieg er über die Berge, die hinter dem See lagen. Ein gebündelter Lichtstrahl brach sich an einem Gipfel und traf mich mitten ins Gesicht. Ich blinzelte. Das war es – das war die Lösung – ein direkter Energiestrahl – eine Richtstrahl-Nachricht – damit konnte ich Kontakt aufnehmen, ohne aufgeklärt und abgehört zu werden.
*
Einige Stunden später erreichte ich Sunset Mesa, um Gerald von der Rust Society zu treffen. Gerald hatte überall Augen und Ohren und ich vertraute ihm. Im Gemeinschaftshaus roch es nach frischem Essen, die hängenden Pflanzen bewegten sich sanft im Luftstrom. Wir saßen an einem Fenster mit Blick auf den Schrottplatz.
“Ich bin da in etwas reingeraten“, fing ich an zu erzählen. “Hast Du irgendwas gehört, dass mich jemand sucht oder schlimmeres?”
“Nein. Es ist viel zu hören. Über Dinge, die passieren. Menschen, die gesucht oder eliminiert werden sollen. Aber deinen Namen habe ich nicht gehört. Viel dreht sich um die Frontier Fighters. Da war es lange still. Jetzt scheint wieder etwas auf uns zuzukommen.”
“Die Frontier Fighters interessieren mich im Moment nicht. Ich hab andere Probleme am Hals. Ich muss nach Stanton, Freunden helfen und dabei unter dem Radar bleiben. Könntest Du mir bescheid geben, wenn Du was hörst, das mit mir im Zusammenhang steht?”
“Ich hab da was, das dir gefallen könnte – Kommunikationsgeräte, verschlüsselt bis ins letzte Bit. Darüber können wir in Kontakt bleiben, ohne dass jemand davon Wind bekommt. Es kann zwar nur eine begrenzte Anzahl Zeichen senden, aber das sollte reichen.”
“Das ist gut. Kannst Du mir von den Geräten mehrere mitgeben? Und gleich noch eine Kiste mit 120 Dosen Rust. Ich will jemandem ein Geschenk mitbringen.”

Das Rust war für Skallagrim, einen Cousin zweiten Grades von Kjeld. Raff und Kjeld hatten mir inzwischen geschrieben, dass sie es aus Lazarus raus geschafft hatten. Sie schlugen ein Treffen im “Deadlight” vor. Ein Hangar in Area18 den Skallagrim zu einem Nachtclub umgebaut hatte. Ich wusste, dass sie dort kein Rust im Angebot hatten und wollte diese Lücke schließen.
Gerald und ich gingen die Stufen hinunter, setzten uns an den großen Tisch und aßen mit den anderen zu Abend. Es gab Suppe mit frischem Gemüse, das in Sunset Mesa angebaut wurde. Das frisch zubereitete Essen war eine Wohltat. Es wärmte nicht nur meinen Magen, sondern auch meine Seele. Neue Zuversicht keimte in mir auf. Der Mut, nicht zu schweigen und die dunklen Machenschaften der Konzerne aufzudecken, kehrte zurück. Es war Zeit nach Stanton aufzubrechen.
*
Zwei Tage später erreichte ich den Planeten ArcCorp im Stanton-System. Der Unterschied zu Sunset Mesa, das sich harmonisch in die Umwelt einbettete, war erschreckend. Dieser Planet befand sich im Besitz des Megakonzerns ArcCorp und war komplett von einer Stadt bedeckt. Lichter, so weit das Auge reichte. Von der ursprünglichen Planetenoberfläche war nichts mehr zu sehen. Die Megakonzerne unterwarfen nicht nur Menschen – sondern auch Planeten.

Skallagrim hatte mir eine VIP-Zugangskarte für das „Deadlight” geschickt und angeboten, schon vor den Öffnungszeiten zu kommen. Nach der Landung in Area18 ging ich direkt zum Club. Zum Glück gab es einen direkten Zugang im Spaceport, sodass ich die Sicherheitskontrollen nicht passieren musste. Trotzdem blieb ich vorsichtig und zog meine Kapuze tief ins Gesicht.
Die Tür zum Deadlight ging auf und vor mir stand der breitschultrige, bärtige und tätowierte Skallagrim. Er trug eine Lederjacke mit Nieten, Stacheln und Metallapplikationen darauf.
“Sei gegrüßt Zero.”
Seine tiefe reibeisenstimme dröhnte wie ein Donnerbeben. Skallagrim war eine furchteinflößende Erscheinung. Ich übergab ihm die Kiste mit dem Rust, dann zeigte er mir den Club.
Das Deadlight übertraf meine Erwartungen – damit hatte ich nicht gerechnet. Skallagrim hatte im Hangar Zwischenwände errichtet und so mehrere Bereiche geschaffen. Es gab einen Eingangsbereich, eine Bar, eine Lounge-Area, eine Arena für Boxkämpfe und einen Privatbereich für vertrauliche Gespräche. Alles war überraschend gemütlich eingerichtet. Die sanfte Beleuchtung und die gelben Wände schufen eine warme Atmosphäre.

Nachdem Skallagrim mir alles gezeigt hatte, zogen wir uns mit Raff in den Privatbereich zurück. Kjeld war in GrimHex beschäftigt und konnte nicht kommen. Wir tauschten uns über die Ereignisse im Lazarus-Komplex sowie über unsere gewonnenen Daten aus. Über den Verbleib von Brubacker, Friedrich, Alaska und Pike wussten die beiden nichts. Nachdem die vier vor mir nach Stanton aufgebrochen waren, hatten wir keinen Kontakt mehr. Ich hatte keine Ahnung, wo sie waren und machte mir ernsthafte Sorgen. Irgendwie musste ich die vier noch finden.
“Ich hab in den Daten noch etwas gefunden”, fuhr ich weiter aus. “ASD-Sicherheitskräfte sollen ein aus den Vanduul-Leichen gewonnenes Testmaterial zu stillgelegten Onyx-Anlagen in Stanton gebracht haben. Ich vermute, das sind alte Anlagen der ASD. Dort sollen allerdings Scavenger unterwegs sein. Ich will noch die Ermittlungsagentur Hockrow Agency kontaktieren. Vielleicht wissen die mehr über die Onyx-Anlagen.”
“Bevor wir in den Onyx-Anlagen ermitteln, sollten wir erst eine Aufklärungsmission starten”, meinte Raff nachdenklich. “Nicht, dass wir wieder in ein Desaster wie in Lazarus laufen. Aber das müssen wir mit Kjeld abschließend besprechen.”
Dann wechselte Skallagrim das Thema.
“Zero, Kjeld hatte Dir doch von einem Deal erzählt.”
Ich schaute ihn fragend an.
“Welchen Deal meinst Du?”
“Wir wollen eine Pipeline zwischen Nyx, Pyro und Stanton aufbauen”, antwortete er. “Seltene Dinge, die es nur in Nyx und Pyro gibt, sollen nach Stanton gebracht und hier im Deadlight verkauft werden. Wir haben Leute, die das Zeug in Nyx und Pyro besorgen und wir haben die Infrastruktur und die Kontakte, um hier zu verkaufen. Was uns fehlt, ist ein Schmuggler, der die Sachen hierher bringt.”
“Und da komme ich ins Spiel”, ergänzte ich.
“Genau so habe ich mir das Gedacht. Wärst Du dazu bereit? Es geht um jede Menge Geld und Kjeld möchte 50:50 mit Dir den Gewinn teilen.”
“Um was für Dinge geht es?”, hackte ich nach.
“Waffen, Klamotten, Klopapier, ….”
Ein lautes, amüsiertes Lachen entfuhr mir. Mit Klopapier spielte Skallagrim auf meine erste Begegnung mit Kjeld an. Damals hatte Kjeld mich bei einer Kontrolle mit Drogen im Klo meiner “White Rabbit” erwischt.
“Solange es kein Menschenhandel ist, bin ich dabei.”
“Nein kein Menschenhandel. Aber vielleicht mal Kräfte von TYR heimlich nach Pyro bringen.”

Das klang nach einem wirklich guten Geschäft und nach einer Möglichkeit, meine früheren Erfolge im Handel und Schmuggel wieder aufleben zu lassen. Wieder frei und ungebunden unterwegs zu sein und dabei auch den freien Völkern zu helfen. Aber zuerst mussten wir die dunklen Machenschaften der ASD auffliegen lassen. Ich stand auf und hob die Dose Rust zum Anstoßen.
“Auf die Geschäfte.”
Skallagrim und Raff stießen mit ihren Dosen an.
“Aber jetzt muss ich los, um die Hockrow Agency zu kontaktieren. Danach komme ich nach GrimHex. Dort können wir mit Kjeld das weitere Vorgehen besprechen.”
*
Kurze Zeit später schwebte die “White Rabbit” im Orbit des Planeten Microtech. Die Schüssel des Scanners war direkt auf die Stadt New Babbage gerichtet. Ich hatte die Anlage umgepolt, um einen Richtstrahl zu senden. Ich konnte die Hockrow Agency nicht direkt kontaktieren, da ich sie über Marsden Analytics kennengelernt hatte. Allerdings hatte ich schon oft mit Marsden Analytics zusammengearbeitet und wusste, dass sie meine Nachricht verstehen würden.
Kontaktiert mich mit dem Krypto beim gefrorenen Teddy, der die Stadt im Blick hat.
Anschließend flog ich im Schutz der Dunkelheit zu einer Insel im gefrorenen See in der Nähe von New Babbage. Am Aussichtspunkt legte ich eines der Kommunikationsgeräte von Gerald ab. Ich tippte dem Teddy, der auf einem der Stühle saß, auf die Nase. Etwas Schnee rieselte von ihm herunter. Dann verschwand ich mit der “White Rabbit” wieder in der Schwärze der Nacht.
