Log #208 – ENOS Nachbeben

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Die Ereignisse von ENOS hatten Folgen. Folgen die auch unerwartete Entdeckungen brachten.


Die Nachbeben des öffentlichen ENOS-Tests waren überall zu spüren. Friedrich Winters stellte Nachforschungen an und konfrontierte die Familie Abendroth. Er wollte wissen, warum sein Enkel Gabriel “Husky” Winters bei einem öffentlichen Test angeschossen worden war. Maximilian Abendroth, das Oberhaupt der Familie, beteuerte seine Unschuld und dass er von dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte in Harpers Point nichts gewusst habe.
Gleichzeitig organisierte Najava Hilfslieferungen für die gebeutelte Siedlung Harpers Point, die Hermieoth und ich auslieferten. Auf das, was mich dort erwartete, war ich nicht vorbereitet.

Es war helllichter Tag, als wir die Siedlung anflogen. Sie lag idyllisch an der Mündung eines Flusses in einen kleinen See. Inmitten ausgedehnter Nadelwälder im grünen Band des Planeten Microtech. Auf beiden Seiten des Flusses standen vereinzelt kleine Gebäude. Sie waren notdürftig aus rostigen Stahlplatten, Holz und Stoff zusammengezimmert. Wie Finger ragten Stege in den See und luden zum Verweilen ein. Ideale Plätze, um die Beine ins Wasser baumeln und die Gedanken über den See gleiten zu lassen. Kein Glanz prägte die Siedlung. Es war das pure, einfache Leben mit dem, was die Umgebung bot.

Der Ort verzauberte mich. Es war die Art von Leben, die mir gefiel. Einfach, verbunden mit der Umwelt und dabei das verwerten, was andere als Müll hinterließen. Frei von Vorschriften des UEE und der Konzerne. Das Leben der freien Völker. Am liebsten wäre ich geblieben und hätte alles hinter mir gelassen. 

Wenige Tage später kehrte ich alleine nach Harpers Point zurück. Ich wollte wissen, wer diese Menschen waren. Woher sie kamen. Doch sie waren nicht sehr gesprächig. Niemand wollte mit mir reden. Das Misstrauen gegenüber Fremden war sehr groß. Kein Wunder nach den Vorkommnissen während des ENOS Tests. Es war typisch für die Konzerne. Ungefragt kamen sie mit ihren großen Raumschiffen an diesen Ort. Sie okkupierten ihn. Sie missbrauchten ihn für ihre Zwecke, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Einwohner.

So schloss ich mich dem Schweigen an und gab mich der Stille des Sees hin. Als Stantons Stern langsam hinter dem Horizont versank, wurden Lagerfeuer angezündet. Überall erhellten flackernde Lichter die Siedlung. Das Knistern vermischte sich mit dem Plätschern des Wassers zu einer Symphonie der Entspannung. Als die Dämmerung einsetzte, kam ein kräftiger Wind auf. Das Rauschen der Bäume untermalte die Symphonie aus Feuer und Wasser. Ich stand am Ufer und blickte über den See. Im letzten Licht des Tages spiegelten sich die Bäume im Wasser. Eine fast vergessene Ruhe durchströmte meinen Körper. Eine Ruhe vor dem Sturm, den ich am nächsten Tag erwartete.

*

Das nächste Nachbeben stand an. Die Free Riders of Stanton wollten Valentin Benz zur Rede stellen. Valentin hatte die Grundfeste des Vertrauens innerhalb der FROS Biker-Gruppe erschüttert. Er hatte mir eine Waffe an den Kopf gehalten und mich bedroht. Ein Vorgang, der in der Gruppe nicht akzeptabel war. Valentin kam zur nächsten Etappe der Microtech Umrundung, um sich zu erklären. Husky, Hermieoth, Brubacker, Chris und ich warteten am Treffpunkt auf ihn. 

“Da kommt Valentin. Wollen wir hier draußen mit ihm reden oder an Bord der Carrack?”

Ich vermutete, dass Valentin nicht ganz aus freien Stücken eine Waffe an meinen Kopf gehalten hatte, trotzdem wollte ich es ihm nicht zu leicht machen.

“Wir sind zum Biken hier. Valentin kann über Funk seine Schandtat erklären. Ich höre mir das während der Fahrt an. Dann entscheiden wir, ob wir ihm ins Gesicht sehen oder ob er das nicht Wert ist.”

Stantons Stern stieg gerade über die Baumwipfel, als wir starteten. Leichtfüßig schwebte meine Dragonfly am Waldrand entlang über die braun-grüne Graslandschaft direkt auf den gelbglühenden Feuerball von Stanton zu. Husky fuhr mit seiner X1 auf gleicher Höhe neben mir. Valentin vergeudete keine Zeit und begann sofort mit einer Entschuldigung.

“Leute das war echt scheiße von mir. Ich wollte das nicht. Das ich keine Munition in der Waffe hatte, konnte Zero nicht sehen. Ich fühle mich echt beschissen deswegen.”

Valentin erklärte, dass sie kein Vertrauen zur Söldnertruppe TYR hatten. Sie hatten die Befürchtung, dass TYR die Black Data entwenden wollte und sie dann ohne Daten dastanden. Dass Cäcilia Abendroth wirklich nur ihre Schwester suchen würde. TYR dagegen würde versuchen, das zu verhindern und würde Informationen zurückhalten. Und er müsse die Black Data nach der Entschlüsselung unbedingt an Vespula aushändigen, sein Leben würde davon abhängen. Daher hätte er keine andere Möglichkeit gesehen, als mich mit allen Mitteln von TYR fernzuhalten.

Ausgedehnte Graslandschaften donnerten unter mir durch. Die Dragonfly stieg schnell die sanften Hügel hinauf, um sich auf der anderen Seite hinunter zu schwingen. Aus den Augenwinkeln sah ich links und rechts kaum wahrnehmbar einzelne Bäume und Felsen vorbeiziehen. Unnachgiebig trieb ich das Hoverbike nach vorne. Immer wieder fragte ich während Valentins Erklärungen nach. Doch ich war so auf das Fahren konzentriert, dass ich kaum aufnehmen konnte, was er sagte. Ich war im Geschwindigkeitsrausch.

Irgendwann sah ich ein paar Hügel vor mir, ein rotes Licht.

“Leute da vorne ist ein rotes Licht.”

“Das ist Dunboro. Unser heutiges Etappenziel.”

“OK. Dort würde ich Valentin gerne ins Gesicht schauen.”

Die anderen stimmten zu.

Dunboro überraschte mich. Es war eine Schrott-Siedlung. Genau wie Harpers Point, nur viel größer. Die Siedlung lag auf einer Anhöhe. Sie war aus den Überresten einer abgestürzten Reclaimer errichtet worden. Geradezu majestätisch erhob sich an einem Ende die hintere Sektion der Reclaimer steil in den Himmel. Wie das Hauptgebäude in Lorville überragte es alle anderen Gebäude. In Dunboro zeigte sich die ganze Kreativität der Schrottverwerter. Aus Schrott hatten sie kleine Gebäude, große Lagerhallen, Werkstätten, eine Bar und einen Einkaufsladen errichtet. Mehrere Windräder sorgten für Energie. Die Dragonfly parkte ich gut geschützt in einer Art Garage.

Beeindruckt ging ich durch die Siedlung. Ich fühlte mich sofort zu Hause. Es erinnerte mich an meine Heimat in Ashana. An das Wrack des abgestürzten Bengal Carriers, in dem ich aufgewachsen war. Im Laufe der Jahre hatten die Bewohner die Überreste des Schiffes in eine Siedlung mit einem blühenden Schwarzmarkt verwandelt. Vor lauter Faszination für die Siedlung Dunboro vergaß ich Valentin.

Nach einer Weile  fand ich zwischen Trümmerteilen einen toten Körper. Er trug eine rostig braune Rüstung mit einem Umhang. Neben ihm lagen mehrere Waffen.

“Leute da liegt einer. Ich glaube die Ausrüstung braucht er nicht mehr. Die Waffen auch nicht. Das Zeug nehm ich mal an mich.”

Unisono kam aus dem Funk “Oh nein. Zero. Nicht schon wieder.”

“Hey. Ich mache genau das, was die Leute hier auch machen. Verwerten, was andere nicht mehr brauchen. Das ist der Kreislauf der Dinge.”

Unbeirrt sammelte ich alle Ausrüstungsteile ein. Schwer bepackt mit mehreren Waffen durchstöberte ich weiter die Siedlung. Plötzlich stand ich vor einer Frau. Sie trug einfache, teils zerfetzte Kleidung. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie mich an. Dann fiel sie auf die Knie, machte sich ganz klein und hielt ihre Hände schützend über den Kopf.

“Nein. Nein. Bitte nicht”, winselte sie.

Perplex stand ich da in meiner schweren Rüstung. Zwei Langwaffen am Rucksack, eine locker in der Hand und eine Pistole an der Hüfte. Die Situation überforderte mich völlig. Ich war unfähig etwas zu sagen.

“Zero, Du machst der Frau Angst.”

Es war Husky.

“Aber ich mache doch gar nichts.”

“Schau Dich doch mal an. Du siehst aus, als wenn Du in den Krieg ziehen wolltest. Los komm. Dahinten liegt noch ein toter Körper. Und mit Valentin wollen wir auch noch reden.”

Planos trottete ich Husky hinterher. Nachdem ich die Ausrüstung des anderen Toten an mich genommen hatte, trafen wir auf Valentin. Hünenhaft stand er vor mir. Sein kahl rasierter Schädel wirkte fast bedrohlich. Auch er trug eine furchteinflößende dunkle Rüstung und war bis an die Zähne bewaffnet. Ich schaute ihm tief in die Augen. Dabei musste ich etwas nach oben sehen. Die anderen standen um uns herum. Es war wie ein Showdown inmitten von Schrott und Wellblechhütten.

“Val, wenn Du Probleme hast, warum kommst Du dann nicht zu Deinen Brüdern von FROS?”

“Weil Du zu sehr mit TYR verbunden bist. Hättest Du mich vorgezogen?”

“Wenn ein Biker Bruder Hilfe braucht, dann bekommt er die. Das hat Vorrang. Wir sind eine Gemeinschaft, die sich gegenseitig hilft.”

“Das überrascht mich jetzt.”

“Ich will Dir glauben. Trotzdem hast Du echt was gut zu machen.”

“Ja ich weiß. Und es tut mir echt leid. Hauptsache Du findest einen Weg, mit Cäcilia die Black Data zu entschlüsseln.”

Nachdem die Gruppe noch eine Weile mit Valentin diskutiert hatte, beschloss sie, ihm eine Chance zu geben. Valentin wurde nicht aus der Gruppe verbannt, aber Vertrauen musste neu aufgebaut werden. 

Den restlichen Tag untersuchten wir weiter die Siedlung. In einer Wellblechhütte fand ich einen Computer. 

“Leute, ich hab da was gefunden. Es gibt noch mehr solcher Siedlungen. Hier sind Wegbeschreibungen. Auch auf Hurston gibt es welche. Manche handeln mit Baumaterialien und Schrott. Die Gewinne scheinen wohl sehr gut zu sein. Sieht so aus, als ob die massiv Probleme haben mit Piraten und Überfällen. Dunboro hat deshalb den Handel eingestellt. Erklärt die Toten und die verängstigte Frau.”

“Lass uns doch als nächstes die anderen Siedlungen anfahren. Vielleicht erfahren wir mehr über die Siedler.”

Als sich der Tag langsam dem Ende neigte, versammelten wir uns alle auf dem höchsten Gebäude. Es war eine unglaubliche Aussicht. Zu unseren Füßen lag das Tobin Tal. Das Tal der Flüsse und Seen. Grün so weit das Auge reichte. Husky fing an zu sinnieren.

“Da geht es beim nächsten mal weiter. Echt ein schönes Tal. Mein Großvater hatte schon einen Scenic Cruise im Tobin Tal veranstaltet. Verrückt, dass damals niemand die Siedlung gesehen hat.”

Auch ich war berauscht von dem Anblick. Der Wind strich leicht über mein Gesicht. Es war ein erhabenes Gefühl, so hoch oben zu stehen und die Welt unter sich zu bestaunen. Doch ein dunkler Schatten zog auf. Der Schatten von ENOS. Wir hatten immer noch keinen Zugriff auf die Black Data. Vermutlich das fehlende Puzzleteil mit entscheidenden Informationen. Ich musste an das Treffen in zwei Tagen denken. Ein Treffen, das einiges ändern könnte. Vielleicht ein weiteres Nachbeben.