Log #264 – Puzzleteile

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Weitere Informationen über die dunklen Machenschaften in Pyro fügten sich wie Puzzleteile zusammen.


Der Schock über Hermieoths Tod saß tief. Wie die Kralle eines Kopions bohrte er sich schmerzhaft ins Fleisch. War Hermieoth ein Opfer der Regenerationskrise? BiotiCorp hatte geschrieben, dass sein Imprint Viability Score zu niedrig sei und kein funktionsfähiger Imprint vorliegen würde. Hermieoth war ein Opfer – gefallen im Gefecht gegen skrupellose Konzerne auf der Suche nach der Wahrheit. Hermieoths Tod durfte nicht umsonst sein – wir durften nicht schweigen – die Konzerne durften nicht ungestraft davonkommen. 

In einer Welt, in der Megakonzerne nur nach ihren eigenen Regeln und ohne Rücksicht handelten, musste jemand die Stimme erheben. Wir hatten den Krieg nicht begonnen, aber unser Sturm wird ihre dunklen Machenschaften aus den Schatten fegen. 

*

Die Luft flimmerte. Der hoch stehende Stern Pyros verwandelte den Planeten Monox in einen Ofen. Die Lufttemperatur erreichte inzwischen fast 60 Grad Celsius. Die letzten Kilometer hatte ich unbemerkt mit dem Hoverbike zu einem hoch gelegenen Felsen  zurückgelegt. Von dort hatte ich einen guten Überblick über Arid Reach, einer Siedlung der Headhunter.

Die Hinweise von Kjeld Stormanson hatten mich hierher geführt. Ein Raumschiff, das für ENOS-Experimente entführte Menschen transportierte, soll hier gelandet sein. Wir wussten, dass die ASD vom Projekt ENOS Leichen der Vanduul erhalten hatte. Ich fragte mich, ob nicht auch Menschen für Experimente an die ASD übergeben wurden. Ich wollte hier die Spur zu den entführten Menschen aufnehmen und den Ort für Kjeld auskundschaften.

Arid Reach lag an einem kleinen Gewässer, eingebettet zwischen Sandhügeln.  Es war ein kleiner Ort mit wenigen Gebäuden und einem etwas abseits gelegenen Landeplatz. Eine Totenstille lag über der Siedlung. Einige Personen liefen bei den Gebäuden umher, beim Landeplatz schien sich niemand aufzuhalten. Es war die ideale Stelle, um mich der Siedlung zu nähern. Ich verließ meinen erhöhten Beobachtungsposten und fuhr mit dem Hoverbike in einem großen Bogen zum Landeplatz. 

Die letzten Meter legte ich zu Fuß zurück und fand hinter einem Felsen Deckung. Vorsichtig schaute ich am Felsen vorbei. Ein Frachtaufzug, Kugel-Gastanks, ein Lagerhaus und ein Raketen-Luftabwehrgeschütz umgaben das Landepad. Menschen konnte ich nach wie vor nicht sehen. Allerdings machte mir ein Überwachungsturm Sorgen, der die gesamte Siedlung überragte.

Ein leichter Windhauch fegte eine Sandwolke über das Landepad. Sonst gab es keine Bewegung, auch nicht auf dem Turm. Ich schraubte den Schalldämpfer auf meine Pistole und ging los. Der Sand knirschte unter meinen Füßen, als ich mich mit der Waffe im Anschlag schnell dem Lagerhaus näherte. Die Tür war geschlossen. Mit einer Hand drückte ich auf den Öffnen-Knopf, während ich die Waffe mit der anderen Hand auf die Tür richtete.

Mit einem Knarzen öffnete sich die Tür. Sand rieselte vom Türrahmen. Ich trat aus dem grellen Sonnenlicht in den halbdunklen Raum, der nur ein schmales Fenster unter der Decke hatte. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte ich einen Werkzeugschrank, Vorratskisten und ein Regal, in dem Matratzen lagen. Jemand hatte ein provisorisches Nachtlager eingerichtet. Auf der oberen Matratze lag eine zerknüllte Decke, an der Wand waren die Buchstaben ‘HELP’ eingeritzt. Hatte eine der entführten Personen hier die Nacht verbracht? Weitere Hinweise konnte ich nicht finden und ging wieder vor die Tür. Mein Blick fiel auf eine Drake Mule, ein kleines sechsrädriges Transportfahrzeug mit geschlossener Kabine. Da kam mir eine aberwitzige Idee.

Die sechs Räder drehten durch und wirbelten Sand auf, als ich Vollgas gab. Schnell holperte die Multe über Steine den Gebäuden der Siedlung entgegen. Ich konnte nur hoffen, dass mir die Kabine genug Schutz bot, falls die Headhunter das Feuer auf mich eröffneten. Als ich kurz vor den Gebäuden war, reduzierte ich die Geschwindigkeit.

Ein breiter Sandweg führte mitten durch die Siedlung. Links und rechts davon befanden sich Gebäude. Die Siedlung war mit Barrieren aus Steinen, Blechen, Stacheldraht und Stahlträgern abgesichert. Langsam fuhr ich an den Barrieren vorbei. Ein bewaffneter Headhunter überquerte direkt vor mir den Weg und schaute mich an. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Im Vorbeigehen nickte er mir zu. Überrascht fuhr ich an ihm vorbei und befand mich mitten in der Siedlung.

Es war verwirrend. Mehrere Headhunter waren unterwegs, doch niemand nahm Notiz von mir. Mein Herzschlag normalisierte sich. Dann fielen mir die Käfige auf. Rostbraune rechteckige Käfige, in denen ein Mensch stehen konnte. Sie standen überall rum. Es war offensichtlich, dass hier Menschen gegen ihren Willen transportiert wurden. Vermutlich war Arid Reach so eine Art Umschlagplatz. Ein kalter Schauer lief mir den Rücken herunter – hier wurden Menschen wie Fracht behandelt.

Ich verließ Arid Reach und machte mich auf den Weg ins Stanton System. Kjeld wollte mich treffen, um unsere Informationen zusammenzutragen.

*

Ich traf Kjeld und Ragnar auf Port Tressler. Mit einer Starlancer TAC flogen wir tief ins Weltall, um uns mit Niki Tricker zu treffen. Sie hatte schon öfters mit Kjeld zusammengearbeitet. 

“Ist diese Niki vertrauenswürdig und kann ich offen über unsere Informationen sprechen?”, fragte ich Kjeld auf dem Flug.

“Ja, kannst du. Aber kein Schmolz, keine Medpens – sonst wird’s bei ihr wild.”

“Hab ich beides nicht dabei. Dafür Rust.”

Kurz darauf erreichten wir den Treffpunkt. Aus der Dunkelheit des Weltalls schälte sich eine Polaris. Erinnerungen an den Vorfall wurden wach, bei dem wir Kjeld und Ragnar aus der Brig einer Polaris befreit hatten. Ragnar ging mit der TAC längsseits. 

Wir verließen die TAC und schwebten im EVA zur Polaris. Jemand erwartete uns an der geöffneten Luftschleuse. Die Person stand auf dem Kopf. Nein, wir waren auf dem Kopf. Die Schwerelosigkeit konnte manchmal verwirrend sein. Wir fielen wie welke Blätter in die Luftschleuse.

“Ich bin Astrid, Euer Empfangskomitee. Folgt mir.”

Kurz darauf standen wir Niki gegenüber. Sie hatte rote Haare und war geschminkt. Trotzdem hatte ihr Gesicht einen Ausdruck der Härte. Sie schien keine aus der besseren Gesellschaft zu sein. Vielmehr wirkte sie wie jemand, die durch die stählerne Hand intensiver Erlebnisse geformt wurde.

“Willkommen an Bord”, sagte sie freundlich mit einer kantigen Stimme.

Dann schaute sie mich an. 

“Ich bin Niki.”

“Mein Name ist Zero. Kjeld sagt ich könne Dir vertrauen. Er vertraut Dir, also will ich das auch tun”, antwortete ich zurückhaltend.

“Lasst uns irgendwo hinsetzen und die Angelegenheit besprechen”, schlug Kjeld vor.

Wir gingen in die Messe und trugen unsere Informationen zusammen. Es stellte sich heraus, dass Niki geholfen hatte, die Hercules von Alaska zu bergen. Die hatte er bei einem Angriff während der Expedition von Friedrich Winters in Pyro verloren. Bei der Bergung wäre Niki fast drauf gegangen. Sie zeigte mir einen Bericht über eine unbekannte toxische Substanz, der sie ausgesetzt war. Ob es einen Zusammenhang mit ASD gab, war unklar.

Ich berichtete von unserem Einsatz beim ASD Data-Center und dem Tod von Hermieoth.  Die Aufklärungsdaten von Arid Reach und die Daten, die wir im Data-Center heruntergeladen hatten, übergab ich an Kjeld. Darin war neben Beschwerden über mangelnde Sicherheitsvorkehrungen bei experimenteller Munition vor allem die Notiz von Dr. Logan Jorrit, dem Chef-Wissenschaftler von ASD, interessant.

Die im Lazarus Komplex erzielten Durchbrüche sind geradezu monströs. Die in dem Gebiet auf Pyro I bestehenden radioaktiven Strahlungen haben geholfen.
Wichtig ist, dass wir unsere Assets schützen. Die Sicherheitsvorkehrungen müssen auf sehr hohem Niveau bleiben. Zugang zu unserer wichtigsten Ressource nur über die in Farrot gespeicherten Schlüsselkarten.
Aufgrund der letzten Sicherheitsvorfälle muss erwogen werden, die Experimente mit der Vanduul-Bioflüssigkeit und weitere kritische Experimente an einem anderen Ort durchzuführen.
gez. Dr. Logan Jorrit

“Wir haben Informationen, dass eines der Raumschiffe, das im Auftrag vom Projekt ENOS entführte Testpersonen transportiert, bei Pyro I in einem gigantischen Magnetsturm verloren gegangen ist”, ergänzte Kjeld. “Die Besatzung soll überlebt haben. Mariette Abendroth, die entführte Tochter der Abendroths, soll auch an Bord gewesen sein”.

“Es scheint alles auf Pyro I zusammenzulaufen”, schlussfolgerte ich. “Wir müssen dort hin. Allerdings müssen wir mit massiven Widerstand rechnen.”

“Wenn wir den Abendroths sagen, dass ihre Tochter dort ist, bekommen wir vielleicht Unterstützung von deren Sicherheitsabteilung”, merkte Kjeld an. “Wäre das ok?”

“Für mich schon. Hauptsache Ray Keaton taucht nicht auf. Aber Brubacker ist auf die Abendroths nicht so gut zu sprechen”, antwortete ich.

“Ich kann auch helfen und vielleicht weitere Unterstützung organisieren”, warf Niki ein.

“Aber vorher müssen wir nach Pyro IV ins Data-Center und die Schlüsselkarte holen”, stellte Kjeld fest. “Wärst Du dabei Zero?”

“Hermieoth soll nicht umsonst gestorben sein. Und wir müssen einen Sturm über ASD bringen. Ja ich bin dabei. Besonders wenn Du meinen Leibwächter Root mitbringst. Notfalls entwickle ich einen Computervirus, mit dem ihr die Sicherheitssysteme umgehen könnt.”

Ich verteilte eine Runde Rust an alle, auch um meine eigenen Nerven zu beruhigen. Ich wollte einen Sturm bringen, doch dazu mussten wir selber in einen Sturm gehen. Ich dachte an meine erste Begegnung mit Hermieoth. Damals, als wir die Beweise für den Killer-Satelliten gefunden hatten. Bei der Aktion waren wir dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen. Diesmal würden wir nicht nur dem Tod entkommen. Diesmal würden wir ihn jagen.