Log #267 – Wunden lecken

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Wir kämpften mit den Folgen unseres desaströsen Einsatzes im Lazarus-Komplex.


“Hiiiiiiiiiiiiiiii” – röchelnd saugte ich Luft ein, als wenn ich sie viel zu lange angehalten hätte. Hatte ich die Luft angehalten? Wann hatte ich zuletzt geatmet? Was war passiert? Wo war ich? Ich fühlte mich orientierungslos – mein Körper, wie wenn ein URSA Rover über ihn gefahren wäre. Blinzelnd öffnete ich die Augen nur einen kleinen Spalt. Unscharfe, verwirrende Bilder erschienen – Müllsäcke – ein gelber Schlauch – Monitore mit gesprungenem Display. Und dann diese abgestandene ranzige Luft. Meine Augenlider fielen wieder zu und ich zurück in einen komatösen Zustand.

Neue unklare Bilder waberten durch meinen Geist. Oder war es mein Geist, der wanderte? Chaos – Angst erfasste mich – ein Raum mit medizinischen Betten – bewaffnete Menschen in Kampfmontur und Strahlenschutzanzügen – ein urzeitliches Brüllen. Ich sah den Raum durch eine Scheibe – Stand vor einem Computer – tippte auf der Tastatur.

Wieder öffnete ich meine Augen –  war im Hier und Jetzt. Eine einzelne Erinnerung war in meinem Kopf. Ich hatte Daten gesichert – wichtige Daten – in einem Data Crypt – die anderen mussten das wissen. Mühsam tippte ich in meinem Mobiglas eine Nachricht. Vielleicht meine letzte. Die Finger zitterten.

Was ist passiert? Liege in einem versifften Bett mit abartigen Kopf- und Gliederschmerzen. Ich weiß nicht was los ist.  Bei mir ist alles aus der Balance. Ich weiß nur, dass ich die gesicherten Daten noch in einem Data Crypt gespeichert habe. Mir fallen gleich wieder die Augen zu. Falls sie nicht mehr aufgehen, hier der Zugangscode: LPCASD9869321

Dann fielen meine Augen wieder zu.

Ich gleitete hinweg in eine Schattenwelt. Erneut erschienen unklare Bilder, die meinen Geist quälten. Ich sah mich selber in einem gelben Schutzanzug – auf dem Boden liegend – andere Körper lagen dort – militärisch aussehende Typen mit Waffen stiegen über die Körper – untersuchten sie – einer richtete eine Waffe auf den Körper neben mir – ein Schuß – er richtete die Waffe auf meinen Körper – ein Schuß – Dunkelheit.

Meine Augen gingen auf. Ich war zurück im Diesseits, mit einem klaren Blick und einer klaren Erinnerung. Scheiße – ich war bei dem Einsatz im Lazarus-Komplex gestorben. Und jetzt? Um mich herum Dreck und medizinische Monitore. Das musste eine Krankenstation in Pyro sein. Ich war regeneriert – in einem neuen Körper. Konnte die Imprint-Technologie in Pyro funktionieren? Offenbar ja – sonst wäre ich nicht hier. Aber war ich vollständig? Schwerfällig richtete ich mich auf und setzte mich auf die Bettkante. Ich tastete meinen nackten Körper ab. Arme – Beine – alles da. Aber was war mit den anderen aus meinem Team?

Langsam rutschte ich von der Bettkante. Erst erfasste Kälte meine nackten Füße. Nach einem unbeholfenen Schritt etwas klebrig flüssiges. Fast hätte ich das Gleichgewicht verloren. Ich stand mitten in einer Blutlache. Verdammt – Nichts wie raus hier.

Vor der Tür sah es nicht anders aus. Überall Dreck und Unrat. Eine flackernde Beleuchtung spendete nur schwaches Licht. Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen, bis ich den Fahrstuhl erreichte. In der Lobby der Klinik fand ich einen Zugang zum Lager. Meine eingelagerten Klamotten waren noch da. Steif wie eingefroren zog ich mich an und verließ durch einen transparenten Plastiktunnel die Klinik. Niemand nahm von mir Kenntnis, niemand beachtete mich. 

Meine Vermutung bestätigte sich, ich war in Pyro auf der Starlight Station, dem Ausgangspunkt unserer Operation. Eine Sache musste ich unbedingt sofort herausfinden – die White Rabbit – wo war sie? – sie stand noch im Hangar. Erleichtert ging ich an Bord, allerdings hatte ich kein Rust mehr – so ein Mist.

Inzwischen waren Nachrichten von Pike, Friedrich und Brubacker eingetroffen. Sie lebten –  irgendwie. Schienen aber verwirrt zu sein. Vermutlich waren sie auch regeneriert. Aber was war mit Alaska, Kjeld und Raff? Ich schickte allen drei eine Nachricht. Vorerst blieb nur das Prinzip Hoffnung.

Mit dröhnenden Kopfschmerzen setze ich mich im Wohnbereich an den großen Bildschirm. Im Data Crypt fand ich jede Menge Daten, die ich aus dem Rechner von Dr. Jorrit extrahiert hatte. Zumindest der Teil der Operation schien erfolgreich gewesen zu sein. Die Buchstaben auf dem Bildschirm fingen an zu verschwimmen. Ich versuchte mich zu konzentrieren. Je mehr ich es versuchte, desto pochender wurden meine Kopfschmerzen. Es hatte keinen Sinn, die Analyse musste warten.

Müde, erschöpft und ausgelaugt, ließ ich mich im Aufenthaltsraum auf das große rote Sofa fallen. Ein unruhiger Schlaf übermannte mich. Chaotische Träume suchten mich heim, in denen meine Psyche versuchte, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Plötzlich schreckte ich hoch. Mein ganzer Körper spürte nur pure Verzweiflung. Zitternd atmete ich tief ein und aus. Wieder und wieder. Dann schloss ich die Augen – versuchte zu meditieren – meine Mitte zu finden – Kontrolle über meine Gefühle zu erlangen. 

Es war meine zweite Regeneration. Die Wiederholung machte es nicht besser. Routine konnte bei diesem unnatürlichen Vorgang nicht eintreten. Es blieb ein traumatisches Erlebnis. Das erste Mal regenerierte ich nach einem Angriff auf einen Bunker, in dem wir Beweise über das Projekt ENOS sichern wollten. Das war mit TYR und weiteren Einheiten. Diesmal war es wieder ein Angriff auf eine Anlage, um Beweise zu sichern, wie damals mit TYR und weiteren Einheiten. Ich sollte mich künftig von großen Kampfhandlungen fernhalten.

Die Erinnerungen an die Kampfhandlungen lösten Panik in mir aus. Meine Hände zitterten. Ich war weit entfernt von meiner inneren Mitte. Mir fehlte die Ruhe und Magie der Wüste. Ich brauchte das Flüstern des Windes, der die Sandkörner raschelnd über die Dünen trieb. Doch zuerst musste ich meine Freunde treffen. Die Zeit für die Wüste war noch nicht gekommen.

*

Wir vereinbarten uns in der Bar auf der Starlight Station zu treffen. Die Bar war nur schwach beleuchtet und wie die ganze Station versifft und dreckig. Niemand war da, nicht einmal ein Barkeeper. Ich ging hinter den schmierigen und klebrigen Tresen, um nach Getränken zu suchen.

“Was machst Du hinter dem Tresen?”

Es war Pike, der als erstes auftauchte. Dann kamen Alaska und Friedrich. Beide sahen immer noch um Jahre gealtert und grün im Gesicht aus. Friedrich wankte wie ein volltrunkener Leichtmatrose. Trotz Regeneration leideten sie immer noch unter den Folgen der prototypischen Munition, von der sie im Farro Data Center getroffen wurden. Schließlich schlich Brubacker wie eine paranoide Maus in die Bar. Immer wieder schaute er sich um und flüsterte.

“Leute, wir sollten nicht hier sein. Lasst uns an einen Ort gehen, wo uns niemand hören kann. Und verhaltet Euch ganz normal.”

Kurz darauf befanden wir uns an Bord der White Rabbit tief im Weltall, weit weg von Planeten und Raumstationen.

“Ist Euch eigentlich klar, was hier los ist”, fing Brubacker an zu poltern. “Nachdem unsere Körper in der Lazarus Station zurückgeblieben sind kennt ASD jetzt unsere Gesichter. Die wissen, wer wir sind und werden uns jagen. Wir können nirgendwo mehr hin.”

“Bru nicht so laut. Mein Kopf dröhnt”, sagte ich schmerzverzerrt und rieb mit den Händen an meiner Schläfe.

Alaska schaute entsetzt in die Runde.

“Soll das etwa heißen, ich kann mich nicht mehr frei bewegen und nicht mehr meinen Forschungen nachgehen?”

Er sprach zwar nicht laut, trotzdem fühlte es sich an, als wenn er mir direkt ins Ohr gebrüllt hätte. 

“ASD hat so viel Dreck am Stecken, die werden uns nicht öffentlich zur Fahndung ausschreiben”, erwiderte ich. “Es wird niemand mit einem Haftbefehl kommen. Wenn überhaupt, dann ….“

“… Moment mal”, fiel mir Pike ins Wort. “Wenn die uns hinterrücks umlegen wollen, dann können wir uns ja nicht einmal in Pyro sicher sein.”

Er lief wie ein nervöses Raubtier auf und ab. Nur Friedrich stand ruhig da, überlegte und sagte dann:

“Lasst uns die Daten anschauen, die Zero in Lazarus extrahiert hat und die nächsten Schritte überlegen.”

Wir versammelten uns im Wohnbereich der White Rabbit. Ich rief die Daten auf dem großen Bildschirm auf. Was wir sahen, war sehr aufschlussreich. 

Wie wir schon vermutet hatten, lieferte ENOS Vanduul Leichen an die ASD. Im Gegenzug durfte das Projekt ENOS Laboreinrichtungen der ASD nutzen. Allerdings wurden keine Menschen von ENOS für Experimente an die ASD geliefert. Die von ENOS in das Pyro System entführten Testpersonen waren zwar im Lazarus Komplex gewesen, darunter auch Mariette Abendroth, sie waren aber weiterhin in der Gefangenschaft von ENOS und wurden inzwischen zur Ruin Station gebracht.

“Die ENOS Zusammenhänge  bringen uns nicht weiter”, merkte Brubacker an. “Das ist eine Angelegenheit der Familie Abendroth. Wir müssen herausfinden, ob die ASD Menschen verändern will. Bisher könnten wir sie nur wegen Tierquälerei anklagen. Und vor allem brauchen wir ein Heilmittel für Friedrich, Alaska und Lyrana.” 

Brubacker hatte recht. Der radioaktive Monster-Valakkar im Lazarus-Komplex war nur die Spitze des Eisbergs. Es gab Hinweise, dass da noch mehr sein musste. Erst hatte Dr. Jorrit Projektdateien mit dem Namen Hyperion im Farro Data Center gelöscht und nach Lazarus transferiert. In Lazarus fanden wir allerdings keine Daten zu Hyperion, dafür eine Notiz von Dr. Jorrit.

Die Menschheit ist mehr als diese engstirnigen Kleingeister, die mich aufhalten wollen, sehen …. Sie werden mich nicht stoppen …. Hyperion wird in Onyx weiterleben.

Ich hatte keine Ahnung, was oder wer Onyx war. Mein Kopf pochte so heftig, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Angestrengt saß ich vor dem Bildschirm und kämpfte mit den Schmerzen. Dann fiel mir die Ermittlungsagentur ein, in deren Auftrag ich Informationen über Dr. Jorrit gesammelt hatte.

“Die Agentur, für die ich gearbeitet habe. Die erstellen ein Dossier über Jorrit. Vielleicht können die was mit Hyperion oder Onyx anfangen. Ich kontaktiere die mal.”

“Was sind das für Typen?”, fragte Pike. “Wir scheißen uns wegen der ASD in die Hosen und die ermitteln. Haben die keine Angst?”

“Dr. Jorrit arbeitet nicht in offiziellem Auftrag”, erklärte Brubacker. “Der macht sein eigenes Ding, worüber nicht alle erfreut sind.  Vermutlich hat die Agentur von ganz oben aus dem UEE Rückendeckung. Das wäre eine Möglichkeit, wenn wir uns unter deren Schutzschirm begeben.”

“Und zu einem Heilmittel für unsere Erkrankung gibt es in den Daten auch Hinweise”, merkte Friedrich an. „Eine ASD Mitarbeiterin ist in Stanton auf dem Mond Daymar in der Nähe einer Harthor Basis abgestürzt. Sie hatte das  Heilmittel an Bord. Das können wir uns holen.”

Beim Gedanken an Harthor stieg sofort Panik in mir auf. Die alten, verlassenen Hathor-Bergbau-Stationen waren der einzige Ort, an dem die für die Forschung zur Regenerationskrise benötigten seltenen Mineralien gefunden wurden. Alle versuchten, sich dort zu bereichern.

“Die Harthor Basen sind ein Kriegsgebiet”, warf ich ein. “Ich bin noch nicht so weit. Ich kann das im Moment nicht. Ich muss erst wieder meine Balance finden und einen klaren Kopf bekommen. Ich muss in die Wüste.”

“Zero, wir brauchen Dich und Deinen Verstand”, rief Brubacker entsetzt.

“Bru, gib mir ein paar Tage. Es geht jetzt nicht. Ich kann nicht klar denken.”

“Und abgesehen davon, wie sollen wir unbemerkt nach Stanton kommen?”, fragte Alaska fast panisch.

“Wir können die Reliant Mako nehmen, die ich gefunden habe”, schlug Pike vor. “Allerdings hat die keinen Sprungantrieb. Wir müssten erst einen organisieren.”

“Wir können nicht einfach in einen Laden und einen kaufen. Damit hinterlassen wir Spuren. Die finden uns”, merkte Alaska entsetzt an.

“Wir können einen auf Starlight  mit meiner falschen Identität, die ich hier in Pyro habe kaufen”, stellte Friedrich fest.

“OK, ich bringe Euch nach Starlight. Dann werde ich mich erstmal in die Wüste zurückziehen“, sagte ich erschöpft.

Als wir bei der Starlight Station aus dem Quantum-Sprung kamen, tauchte ein Raumschiff auf dem Radar auf. Es war direkt zwischen uns und der Station. Waren das schon Killer, die auf uns angesetzt waren? Nervös aktivierte ich die Scanner.

Ungeduldig tippten meine Finger auf das Steuerrad, während der Scan lief. Warum dauerte das so lange? Dann erschienen endlich die Ergebnisse auf dem Bildschirm. 

“Hey Leute, da ist eine verlassene Medical Piscis. Bei der können wir den Sprungantrieb ausbauen.”

“Oder gleich das ganze Schiff nehmen”, meinte Friedrich.

Brubacker, Alaska, Pike und Friedrich wechselten auf die Piscis und flogen zum Stanton Gateway. Ich setzte Kurs auf den Planeten Monox und startete den Quantum Antrieb. Der Antrieb fuhr hoch, kalibrierte den Sprung und mit einem Fingertipp verschwand die White Rabbit in den Tiefen des Alls. Es war Zeit, unter dem Radar zu verschwinden und den Weg der Mitte zu finden, mal wieder.