Log #260 – Erkenntnis

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Ich zweifelte an dem, was ich tat, und kam zu einer Erkenntnis.


Microtech war eingehüllt in tiefer Schwärze. Nur die Lichter von Dunboro waren in der Dunkelheit zu sehen. Die Siedlung, die aus Schrott errichtet wurde, lag tief in der Wildnis des Planeten Microtech. Weit weg von Orten und Außenposten die von den Megakonzernen kontrolliert wurden. Hier wollte ich jemanden treffen, der mir hoffentlich meine Fragen beantworten konnte.

Zwischen den provisorisch errichteten Gebäuden stand ein Greycat MTC, dessen starken Scheinwerfer alle anderen Lichtquellen überragten. Sie leuchtete einen großen Teil der Siedlung aus. Ich zog es vor, im Dunkeln zu bleiben und mied den grellen Lichtkegel. Vorsichtig bahnte ich meinen Weg durch kaum sichtbare Anhäufungen von Schrott, verbogenen Metallstangen und alten Fahrzeugwracks. 

Langsam näherte ich mich von hinten einem Gebäude, auf dem in rosa leuchtenden Buchstaben ‘BAR’ stand. Auf der Rückseite stand im Schein von Lampen ein wackliges Regal mit Vorratskisten. Neben dem Gebäude knisterte ein Feuer. Vor dem Gebäude waren die Stimmen von zwei Personen zu hören.

“Pyro IV ist im Orbit vom Gasriesen Pyro V, oder?”

Ich trat aus der Dunkelheit und sagte:

“Genau – Pyro IV umkreist Pyro V.”

Kjeld Stormanson und Ragnar Tyrson schauten mich verdutzt an.

“Zero, sei gegrüßt”, sagte Kjeld.

“Schön Dich zu sehen”, ergänzte Ragnar in seiner tiefen, brummigen Stimme.

“Ich grüße euch …”, antwortete ich. “… und danke, dass wir uns treffen können.”

“Sehr gerne. Aber lass uns an Bord unseres Schiffes gehen. Dort sind weniger Ohren, die uns zuhören”, empfahl Kjeld.

Obwohl es nur wenige Dutzend Meter bis zur Starlancer TAC waren, die am Rande der Siedlung gelandet war, fuhren wir mit dem Greycat MTC. An Bord der Starlancer setzen wir uns an den Tisch in der Messe. Nach einem kurzen Smalltalk erzählte ich von meinem Verdacht, dass ENOS und die Regen-Krise zusammenhängen könnten.

„Hältst Du das für denkbar?”, fragte ich Kjeld direkt.

“Denkbar ja, aber höchst spekulativ”, antwortete er nachdenklich und mit leiser Stimme.

“Und könnten die Bio-Bots, die im Projekt ENOS entwickelt wurden, die Gene von Menschen verändern?”, hackte ich nach.

Kjeld hob skeptisch eine Braue.

“Keine Ahnung. Das müssten wir die Verantwortlichen von ENOS fragen. Aber die müssen wir erstmal finden.”

Ein bedrückendes Gefühl der Ratlosigkeit schien über dem Gespräch zu liegen. Ragnar stand auf, ging zu einem Schrank, holte zwei Flaschen CRUZ Lux und stellte sie auf den Tisch. Nach mehreren Sekunden des Schweigens fuhr Kjeld fort.

“Wir haben eine Spur nach Pyro II zu einem Ort namens Arid Reach.”

“Die Headhunters kontrollieren diesen Ort”, stellte ich mit besorgter Stimme fest. “Wann brecht ihr nach Pyro auf?”

“Die Vorbereitungen laufen. Wir haben einen Plan….”.

“Vergesst Pläne”, fiel ich Kjeld lachend ins Wort. “In Pyro kommt es anders als geplant. Eine Reise nach Pyro ist wie ein Trip in die Wüste. Nimm Wasser und Verpflegung mit. Alles andere ist Ballast und lenkt dich ab. Du musst flexibel sein und dich auf die Situation einlassen.”

Kjeld fing an, Fragen über die Beschaffenheit der Planeten in Pyro und deren Atmosphäre zu stellen.  Ragnar wollte wissen, wie man unbemerkt nach Pyro kommen konnte. Ich teilte mit, was ich wusste und gab Tipps, wie ich bisher ohne Komplikationen zwischen Stanton und Pyro gereist war.

“Nach meiner Erfahrung ist es besser, unbemerkt zu bleiben. Stealth Komponenten sind wichtiger als starke Waffen. Macht es wie der Valakaar. Bleibt im Verborgenen, taucht nur auf, wenn es sich lohnt und verschwindet, wenn es kritisch wird.”

“Das ist unser täglich Brot”, bemerkte Ragnar.

Ich stand auf, nahm die Flasche CRUZ und sagte:

“Wenn ihr in Pyro einen lokalen Führer braucht, kontaktiert mich.”

Dann trank ich die Flasche auf einen Zug leer, stellte sie auf den Tisch und verabschiedete mich.

Etwas frustriert lief ich durch die Dunkelheit zurück zu den Lichtern von Dunboro. Der Wind war zu einem Sturm angeschwollen und blies mir ins Gesicht. Schützend hob ich die Hand. Das Gespräch hatte mich nicht weitergebracht. Aber vielleicht hatte Kjeld recht und mein Verdacht war höchst spekulativ, nur ein Produkt meiner Fantasie.

Ich fragte mich, ob es überhaupt einen Unterschied machte, wenn ENOS und die Regen-Krise zusammenhingen. Beides waren skandalöse Ereignisse, die am Ende nur den Mächtigen dienten. Es machte keinen Unterschied, ob kombiniert oder unabhängig voneinander. Und ich fragte mich, ob sich der ganze Aufwand überhaupt lohnte, den wir betrieben. Ja, wir halfen den Citizens for Prosperity. Aber deren Endziel war, dass Wirtschaftsmächte und das UEE nach Pyro kommen und Wohlstand bringen würden. Und was würde dann aus den freien Völkern werden? Hätten sie das Nachsehen? Ich hegte erhebliche Zweifel an allem, was ich tat.

Nachdenklich lief ich durch das Gerippe der alten Reclaimer. Wie der ausgehöhlte Körper eines gigantischen Wals lag sie in Dunboro und diente als Grundstruktur des Schrottplatzes. Im schwachen Licht einiger Lampen lagen überall Kisten, Schrottteile und ausgediente Komponenten. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht auf den Weg achtete. Plötzlich stolperte ich über eine gelbe Metallkiste.

Als meine Schienbeinschoner dagegen krachten, öffnete sich der Deckel. Mir blitzte das Funkeln von Mineralien entgegen. Die Kiste war voller Kristalle. Verstohlen schaute ich mich um. Wussten die Bewohner, was auf ihrem Schrottplatz lag? Vielleicht war es Raubgut. Immerhin handelte es sich bei den Bewohnern um die Dusters. Eine gesetzlose Gruppe, die illegalen Bergbau betrieb und andere Bergleute überfiel. Es entsprach zwar nicht dem Kodex der Wüste „Du kannst behalten, was du findest”, aber Diebesgut zu klauen, war nicht verwerflich. Außerdem konnten die Mineralien zur Finanzierung unserer Expedition beitragen.

Ich kniete über der Kiste, schloss den Deckel und schaute noch einmal über meine Schultern. Dann stand ich auf, nahm die Kiste und verschwand damit in der Dunkelheit der Nacht. Noch bevor die Dusters mich bemerkten, hatte ich die Kiste im Frachtraum verstaut.

*

Einige Stunden später tauchte ich mit der Starlancer Max in die Wolken des Gasriesen Crusader ein und steuerte die Wolkenstadt Orison an. Ich hatte noch eine Ladung Mineralien dabei, die wir in Pyro abgebaut hatten. Diese wurden zwar nicht zur Bewältigung der Regen-Krise benötigt, könnten unserer Expedition jedoch eine Finanzspritze verschaffen. Zwar hätte ich in einer Einrichtung von Hurston Dynamics mehr Geld dafür bekommen, aber wir wollten die Waffenproduktion des Konzerns nicht direkt unterstützen.

Das Gefühl, wieder in Orison zu sein, war eine Mischung aus Nach-Hause-Kommen und völlig deplatziert zu sein. Es war der Ort, an dem mein Imprint erstellt worden war, der Ort, dem ich meinen Neuanfang nach dem Gefängnisaufenthalt verdankte. Doch meine Zeit in Pyro hatte mich verändert. Nicht nur äußerlich passte ich nicht mehr in diese glänzende Welt. Wussten die Menschen, die hier lebten, wie das Leben außerhalb ihrer rosa Blase war? Ich bezweifelte es. Trotzdem nahm ich mir ein Zimmer im Green Circle, um ein paar Tage zu bleiben und in aller Ruhe die notwendigen Besorgungen zu machen.

Im Handelszentrum konnte ich die Mineralien für 85.000 Credits verkaufen. Das war angesichts unserer Verluste nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber mehr als genug, um Vorräte zu kaufen. Diese wollte ich im Einkaufszentrum von Orison besorgen. Etwas verloren stand ich vor dem Kühlregal im Kel-To-Shop. Es war prall gefüllt mit Obst, Burritos, Getränken und Sandwiches. Alles war sauber und ordentlich eingeräumt. Aber es wirkte auch steril und unpersönlich. Der Unterschied zu den Läden in Pyro hätte nicht größer sein können. Während die Menschen hier wie die Made im Speck lebten, fehlte es den Menschen in Pyro an allem. Ich fing an, die Sachen einzupacken, die wir benötigten, sowie die Sonderwünsche von Pike und Hermieoth.

Anschließend schlenderte ich durch die Wolkenstadt. Rosa Blütenblätter rieselten wie ein sanfter Sommerregen von den Bäumen und wurden von einer leichten Brise über die Plattform geweht. Alles wirkte so friedlich und harmonisch. Nichts deutete auf die Krisen hin, die wie bedrohliche schwarze Gewitterwolken über allem schwebten. Es waren Krisen, für deren Bewältigung ich mich einsetzte, ohne genau zu wissen, warum.

Mit mir selbst hadernd lief ich stundenlang ziellos umher. Als die Nacht über Orison hereingebrochen war, fand ich mich in der Voyager Bar wieder. Das Leder des Sessels, in dem ich saß, knarrte, als ich mich hin und her bewegte. Unfokussiert starrte ich in die Flammen, die in einem sargähnlichen Behältnis tanzten.

ENOS und die Regen-Krise könnten das Feuer sein, in dem die Gesellschaft zu verbrennen droht. Wenn künftig nur Auserwählte überleben würden, wäre das auch das Ende für die freien Völker. Bei dieser Krise ging es nicht nur um eine Technologie, sondern um die Freiheit. Es spielte keine Rolle, welches Endziel die Citizens for Prosperity verfolgten. Wenn ich den freien Völkern helfen wollte, musste ich dabei helfen, die Regen-Krise zu beenden. Es lohnte sich, den Aufwand zu betreiben und das Risiko einzugehen.

Für die Freiheit.